Die Tücken der Roten Liste
9. August 2016Die #link:http://www.iucnredlist.org:Rote Liste# der Weltnaturschutzunion IUCN ist lang, umfangreich, komplex und eine ernüchternde Lektüre. Auf Hunderten von Seiten katalogisiert sie die gefühlte und wahre Bedrohung von Arten in aller Welt.
Wenn man sich durch den digitalen Wälzer klickt, lernt man nicht nur die Namen zahlloser Arten, von denen man noch nie gehört hat, sondern wird sich auch sehr bewusst, welche Auswirkungen das Verhalten der Menschen auf deren Überleben hat. Genannte Gründe für die Gefährdung der Arten sind unter anderem der Handel mit Wildtieren, die Zerstörung der Umwelt und die Jagd.
Das Dokument führt bereits mehr als 82.000 Arten auf. Bis 2020 sollen insgesamt 160.000 Arten evaluiert sein, so das erklärte Ziel. Damit dient es als Barometer für das Wohl der Flora und Fauna unseres Planeten oder als “Alarmglocke”, wie Craig Hilton-Taylor sagt, der die Abteilung Rote Liste leitet.
"Sie ist ein Gewissen für die Welt", fügt er hinzu. "Sie sagt 'Hey, da passiert was mit dieser Art, ihr müsst was dagegen tun.'"
Kategorien und Kriterien
Und das tun er und ein Netzwerk von rund 10.000 Wissenschaftlern. Viele von ihnen haben sich jahrzehntelang vor Ort der Erforschung einer ganz speziellen Tier- oder Pflanzenart gewidmet. Seit die Rote Liste in den frühen 1960er Jahren entstanden ist, hat sie sich deutlich verändert und wurde verfeinert. Die bedeutendste Veränderung kam in den 1990ern. Damals wurde die Liste weltweit verstärkt verwendet, und es wurde deutlich, dass klare Kriterien nötig waren. Bis dahin waren die Bewertungen eher subjektiv gewesen.
"Wir mussten entscheiden, was wir messen wollten", sagte Hilton-Taylor gegenüber DW. Am einfachsten sei es gewesen, die verfügbaren Informationen über Bedrohung und Populationsstatus zu nehmen und daraufhin zu entscheiden, wie wahrscheinlich es sei, dass eine Art ausstirbt. "Und so definierten wir eine Reihe von Kriterien mit quantitativen Grenzwerten, die erreicht werden müssen, damit eine Art in eine andere Risikokategorie eingestuft wird."
Durch die Anwendung der Kriterien, zu denen Faktoren wie Größe und Fragmentierung einer Population sowie ihr Verbreitungsgebiet und das Tempo ihres Schrumpfens gehörten, ermittelt die IUCN, ob eine Art als potenziell gefährdet gilt, als gefährdet, stark gefährdet, vom Aussterben bedroht, in der Natur ausgestorben oder komplett ausgestorben ist.
Hilton-Taylor vergleicht die Rolle der Liste mit der einer Triage-Krankenschwester in der Notaufnahme, die beurteilt, ob der Patient sofort einen Arzt sehen muss. "Wir versuchen zu klären, wie schlimm die Situation ist und präsentieren dann Beweise und Vorschläge dafür, was getan werden kann."
Ein fehlerhaftes Konzept?
#link:http://biosciences.exeter.ac.uk/staff/index.php?web_id=Brendan_Godley:Brendan Godley,# Direktor des Exeter University Centre for Ecology and Conservation sagt hingegen, die Information, die in der Liste präsentiert wird, zeige die Dinge nicht immer so, wie sie wirklich sind.
"Wenngleich sie in ihren Kriterien objektiv ist, kann die Anwendung der Kriterien subjektiv erfolgen, um Antworten zu liefern, die die Leute wollen", sagt er. Wenn die Population einer Art in einem Land stark zurückgehe, aber im größten Teil ihres Verbreitungsgebietes wachse, dann könne die mögliche Herabstufung von stark gefährdet zu gefährdet einen Einfluss auf die mögliche Akquise von Fördergeldern haben.
Er nennt Meeresschildkröten als ein Paradebeispiel für eine Art, die auf der Roten Liste ein dramatischeres Bild vermittelt, als eigentlich gerechtfertigt wäre. Godley sagt, wenn es zwanzig Populationen einer Art von Meeresschildkröten gibt, von denen es neunzehn gut geht und eine ernsthaft bedroht ist, dann bedeutet das nicht, dass die gesamte Art bedroht sei. Daher betont er, dass es wichtig sei, die Probleme ehrlich zu benennen, damit die Naturschutzbemühungen an den richtigen Stellen konzentriert werden können, während man die Art als Ganzes gleichzeitig im Auge behält.
"Wir können uns nicht immer auf das Vorsorgeprinzip berufen. Sonst bekommen wir irgendwann absurde Ergebnisse und liefern den Schwarzsehern Munition, die Schutzargumente zu untergraben", sagt Godley.
Ein offenes Buch
Doch Hilton-Taylor besteht darauf, dass der Rote-Liste-Prozess transparent und offen ist. Wenn irgendjemand Beweise habe, dass der offizielle Status einer Art nicht zutreffend beschrieben sei, so möge er diese Daten vorlegen. Dann könne er sich mit dem ursprünglichen Gutachter zusammensetzen, um Ergebnisse zu vergleichen und, falls angebracht, zu einer neuen, gemeinsamen Einschätzung kommen.
Und das ist eine der größten Stärken dieses Magnum Opus des Artenschutzes: Es wird ständig aufs Neue geprüft und kann relativ leicht aktualisiert werden, um unserer sich ständig verändernden Welt Rechnung zu tragen. Von den mehr als 82.000 Arten, die bereits auf der Liste stehen, wurden viele bis zu sechs mal neu bewertet. Allein in diesem Jahr bewertet der Rote-Liste-Partner "Birdlife" den Status der gesamten Vogelpopulation der Welt neu. Darüber hinaus werden bis zu 2000 andere Arten von Fauna und Flora neu dokumentiert.
"Uns ist bewusst, dass die Liste manchmal das Risiko für das Aussterben einer Art über- oder unterbewertet. Aber die Tatsache, dass wir wiederholt Bewertungen durchführen, ermöglicht es uns, das Gleichgewicht wieder herzustellen", sagt Hilton-Taylor.
Gemeinsam stark
Immer wieder betont er, dass es sich um ein "langfristiges" Projekt handelt, selbst wenn es nicht perfekt sei - so wie die meisten Dinge im Leben. Doch es ist ein unbezahlbares Werkzeug im Bestreben die Artenvielfalt auf unsere Welt zu erhalten.
Bis dato hat die Liste zahlreiche Arten vom Rande der Ausrottung zurückgeholt, unter anderem den Kokardenspecht, den Insel-Graufuchs und den Blauen Leguan. Und sie hat ein Interesse am Schutz von Tieren und Pflanzen geweckt, die sonst fast unbekannt von der Erde verschwunden wären.
Für den Mann, der die Abteilung "Rote Liste" leitet, ist das ermutigend. "Trotz der unglaublichen Herausforderung, der wir gegenüberstehen, gibt es fantastische Erfolgsgeschichten. Die zeigen: Wenn Gemeinden und Behörden vor Ort sowie Regierungen und die Zivilgesellschaft ihre Naturschutzbemühungen bündeln, dann kann man die Dinge sehr schnell zum Guten wenden."