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Politik

Nur Verlierer am D-Day

24. Februar 2019

Mehrere Tote, hunderte Verletzte und verhärtete Fronten: Juan Guaidó und Nicolás Maduro haben beide, trotz gegenteiliger Bekenntnisse, den Machtkampf in Venezuela verloren. Der größte Verlierer ist aber die Bevölkerung.

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Kolumbien Grenze Venezuela Brennende Hilfsgüter
Bild: AFP/E. Estupinan

Der 6. Juni 1944 war der Anfang vom Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Vor 75 Jahren gelang es den alliierten Truppen, an den Küsten der Normandie zu landen, ein knappes Jahr später war der Krieg vorbei. Juan Guaidó hatte den 23. Februar zum venezolanischen D-Day erklärt, die Hilfslieferungen würden an diesem Tag auf jeden Fall ins Land kommen, der Machtwechsel in Venezuela sei nahe. Das Fazit einen Tag später: Nichts davon ist eingetreten.

Für den "Tag der Entscheidung" einen solchen historischen Vergleich zu ziehen, wie Guaidó es tat, ist zumindest unglücklich. Die Hilfslieferungen in Kolumbien, Brasilien und auf der Insel Curaçao hatten immer den Stempel "Made in the USA" und waren somit eine Steilvorlage für die im wahrsten Sinne des Wortes vergiftete Propaganda von Präsident Nicolás Maduro. Für den Machtwechsel war und ist das Militär der Schlüssel. Zwar desertierten Dutzende Soldaten im Laufe des Tages und Guaidó nutzte dies mit der ganzen Wucht der sozialen Medien, doch gelang es dem selbsternannten Interimspräsidenten nicht, was er sich vielleicht vorher in einem sehr unrealistischen Szenario ausgemalt hatte.

Guaidós Hoffnung auf ein friedliches Happy-End erfüllt sich nicht

Nämlich Militärs, die beim Anblick der Protestbewegung in den weißen T-Shirts ihre Waffen niederlegen, von einer Stunde auf die andere von Maduro zu Guaidó umschwenken und darauf vertrauen, dass die versprochene Amnestie eingehalten wird. Hilfslieferungen nicht ins Land zu lassen sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, hatte Juan Guaidó in einem Interview mit der Deutschen Welle gesagt, um den Druck auf die Militärs zu erhöhen - auch dies ohne Erfolg.

Der selbsternannte Interimspräsident Juan Guaidó in dem kolumbianischen Grenzort Cúcuta
Der selbsternannte Interimspräsident Guaidó in dem kolumbianischen Grenzort Cúcuta: "Alle Optionen offen halten"Bild: Getty Images/AFP/G. Munoz

In einer ersten Reaktion nach dem Scheitern seines Plans twitterte Guaidó, man müsse sich nun alle Optionen offen halten - und erinnerte damit fatal an die Sprechweise von US-Präsident Donald Trump, bei Venezuela lägen alle Optionen auf dem Tisch. Kurze Zeit später ruderte Guaidó zwar wieder zurück und appellierte an eine diplomatische Lösung mit internationaler Hilfe, einer Übergangsregierung und freien Wahlen, doch der Geist einer US-amerikanischen Intervention war damit aus der Flasche. Auch bei Guaidó liegen - verständlicherweise - die Nerven blank. Am Montag will er am Treffen der Lima-Gruppe in Bogotá teilnehmen. In der Lima-Gruppe ist aber auch Kolumbien vertreten - also ausgerechnet das Land, mit dem Maduro gerade alle diplomatischen Beziehungen abgebrochen hat.

Kaum vorstellbar deshalb, dass Venezuela auf irgendeinen Vorschlag der Vermittlungsgruppe eingeht. Und dann ist da noch die Frage, was mit Guaidó passiert, wenn er nach Caracas zurückkehrt. Durch seinen publikumswirksamen Auftritt am Freitag beim Benefizkonzert "Venezuela Live Aid" hatte der selbst ernannte Interimspräsident der Weltöffentlichkeit klar gemacht, dass er sich nicht um sein Ausreiseverbot aus Venezuela schert. Das könnte für Guaidó nun zum Bumerang werden.

Verstörende Bilder an der Grenze entlarven Maduro

Aber auch Nicolás Maduro ist ein Verlierer vom Samstag. Der Mann, der vollmundig verkündete, der Aufstand sei gescheitert, der sein allseits bekanntes antiimperialistisches Vokabular benutzte, um den Transport der Hilfslieferungen lächerlich zu machen und seinen Gegenspieler Guaidó als Clown, Hampelmann und Marionette der US-Regierung bezeichnete. Ein Machtkampf ist aber immer auch ein Kampf der Bilder, vor allem wenn wie an Samstag die ganze Welt zuschaut - und in Erinnerung bleiben werden Tote an der Grenze zu Brasilien, vor Tränengas fliehende und weinende Freiwillige und brennende Hilfskonvois.

Venezuelas Präsident Nicolas Maduro spricht während einer Kundgebung
Machthaber Maduro auf einer Kundgebung in Caracas: Gesellschaft noch weiter gespaltenBild: Reuters/M. Quintero

Maduro hat auf seine eigene Bevölkerung schießen lassen, hat die Beziehungen zum Nachbarland Kolumbien, das mehr als eine Million venezolanische Flüchtlinge ohne Aufhebens aufgenommen hat, für seine Propaganda geopfert und hat die Gesellschaft Venezuelas noch weiter gespalten, soweit das überhaupt noch möglich ist: In einen kleinen Teil auf der einen Seite, der ihm immer noch im Glauben an die Bolivarische Revolution oder wegen finanzieller Zuwendungen die Treue hält. Und andererseits die Mehrheit, die hungert, die keine ärztliche Hilfe bekommt (die Verletzten an der Grenze zu Brasilien vom Samstag konnten nicht in venezolanischen Hospitälern behandelt werden) und die wegen der Perspektivlosigkeit im Land mit den größten Erdölreserven der Welt täglich zu Tausenden das Land verlässt.

Die venezolanische Bevölkerung ist somit der größte Verlierer des Machtkampfes. Denn eine diplomatische Lösung ist seit Samstag in noch weitere Ferne gerückt. Wenn US-Außenminister Mike Pompeo die Zeit gekommen sieht, die venezolanische Bevölkerung zu unterstützen, sollte diese eher beunruhigt sein, als sich über die Hilfe aus Washington zu freuen. Eine militärische Intervention der USA ist seit diesem Samstag zumindest nicht unwahrscheinlicher geworden. Der 23. Februar 2019 könnte damit tatsächlich ein D-Day gewesen sein: der Tag der Entscheidung, dass ein friedlicher Machtwechsel in Venezuela vom Tisch ist.