Nur ein notwendiges Ritual?
27. Januar 2002An den meisten Menschen in Deutschland geht der Holocaust-Gedenktag unbemerkt vorüber. Keine Schweigeminute bringt das öffentliche Leben zum Stillstand, kein Sirenengeheul erinnert an die unvorstellbaren Gräuel der Nazizeit, selbst das öffentlich-rechtliche Fernsehen nimmt diesen Tag nicht zum Anlass, um einen thematischen Schwerpunkt zu setzen. Lediglich im Kalender der jüdischen Gemeinden steht unter dem Datum 27. Januar die Anmerkung: "Holocaust-Gedenktag". Doch die Juden in Deutschland brauchen diesen erst vor wenigen Jahren vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog eingeführten Tag nicht, um sich an die Nazizeit und die Judenvernichtung zu erinnern. Für sie ist diese Vergangenheit ohnehin stets präsent. Zumal in einer Zeit, in der sich antisemitische Vorfälle in Deutschland wieder häufen. Für wen also gibt es diesen Tag und brauchen wir ihn überhaupt? Oder ist er nur ein sinnentleertes Ritual, mit dem die Bundesrepublik Deutschland selbstquälerisch versucht, ihre Vergangenheit zu bewältigen, um in den Augen der Welt gut dazustehen? Ein Ritual, das die große Mehrheit der Deutschen unbeeindruckt lässt, ja, von dem sie kaum Kenntnis nimmt.
Nein, der Holocaust-Gedenktag ist mehr als das. Denn er steht für das Bekenntnis der deutschen Nation zu der Gesamtheit ihrer Vergangenheit, ein Bekenntnis, das auch das dunkelste Kapitel dieser Vergangenheit einschließt. Er erinnert an die beispiellose Eruption des Antisemitismus im Herzen der europäischen Zivilisation, in der Mitte des "Volkes der Dichter und Denker". Er gemahnt an die gnadenlose, unmenschliche Verfolgung und Vernichtung der Juden durch Nazideutschland, an die Entfesselung von Rassismus, Hass und Feindschaft.
Der Deutsche Bundestag, der sich diesem Tag in einer besonderen Gedenkveranstaltung widmet, hält diese Erinnerung stellvertretend für das deutsche Volk wach. Dieser Tag sollte aber nicht nur an die Vergangenheit erinnern, eine Vergangenheit mithin, die immer mehr Deutsche inzwischen nicht mal mehr von ihren Großeltern, sondern lediglich aus den Geschichtsbüchern kennen. Der Holocaust-Gedenktag sollte auch in Gegenwart und Zukunft hineinwirken, indem er die Deutschen an ihre historisch begründete Verantwortung in der Welt gemahnt und ihnen mit Blick auf weit entfernte Weltgegenden bewusst macht, dass auch sie nicht gefeit sind vor abgründigen Entwicklungen, vor Massenhysterie, vor dem Absturz in Gewissen- und Kulturlosigkeit.
Der Holocaust-Gedenktag also sollte zum Selbstverständnis der deutschen Nation gehören. Denn er erinnert nicht nur an das dunkelste und noch viele Generationen beschämende Kapitel der deutschen Geschichte. Dieser Tag macht gleichzeitig auch deutlich, dass die Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahrzehnten eine beispiellose Leistung vollbracht hat, eine Leistung auf die sie mit Recht stolz sein darf. Denn sie hat die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht gescheut. Historiker und Politiker, Lehrer und Erzieher, die Kirchen und gesellschaftliche Gruppen wie Aktion Sühnezeichen - sie alle haben sich verdienstvoll um eine Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit bemüht und damit der Rückkehr Deutschlands nach Europa den Weg geebnet.
Vieles freilich bleibt zu kritisieren. Viele Fragen bleiben offen, viele Themen wurden nicht berührt. So müssen sich Justiz, Medizin und Polizei zum Beispiel fragen lassen, was sie beigetragen haben, um ihrer Vergangenheit auf die Spur zu kommen. Dennoch, der Holocaust-Gedenktag steht auch für diese permanente und oft schmerzhafte Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Es ist eine Auseinandersetzung, auf die die Deutschen stolz sein dürfen.
Der Holocaust-Gedenktag ist daher ein Tag, der nicht nur Demut und Scham über die Vergangenheit hervorruft, sondern auch Stolz auf die Leistungen der demokratischen und erwachsenen Bundesrepublik wecken darf.