"Völliges Versagen"
16. Mai 2013Die Sicherheitsbehörden haben den Rechtsextremismus über Jahre maßlos unterschätzt. Zu diesem Urteil gelangen die Mitglieder des parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Bundestags zur Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU), der zehn Morde sowie mehrere Bombenanschläge und Banküberfälle zur Last gelegt werden. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages gehen sogar noch einen Schritt weiter und sprechen von "staatlichem Totalversagen". Der Befund ist angesichts zahlreicher nachgewiesener Pannen der Sicherheitsbehörden alles andere als überraschend und zeichnete sich schnell ab, nachdem der NSU Ende 2011 eher zufällig aufgeflogen war.
Während der Prozess gegen die mutmaßliche NSU-Terroristin Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte vor dem Oberlandesgericht (OLG) München gerade erst begonnen hat, haben die parlamentarischen Aufklärer ihre Anfang 2012 begonnene Beweisaufnahme an diesem Donnerstag (16.05.2013) beendet. Auf ihrer 72. Sitzung befragten sie ein letztes Mal Mitarbeiter des heftig kritisierten Verfassungsschutzes, baten aber auch Sachverständige um Rat. Denn die Obleute des Untersuchungsausschusses wollten nicht nur die Fehler der Vergangenheit analysieren, sondern daraus auch Lehren für die Zukunft ziehen.
Opfer-Angehörige danken dem Untersuchungsausschuss
Unter den Sachverständigen: die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Hinterbliebenen des NSU-Terrors, Barbara John. Sie attestierte den elf Mitgliedern des Gremiums, dass sie gute Arbeit geleistet hätten und würdigte den Untersuchungsausschuss als "Highlight" der Aufarbeitung. Ausdrücklich übermittelte John den Dank der Opfer-Familien, die sie tags zuvor beim NSU-Prozess in München getroffen hatte.
Als Nebenkläger erleben die Angehörigen, wie zäh und schwierig die strafrechtliche Bewältigung der NSU-Mordserie ist. Als besonders belastend empfinden sie es, dass die Hauptangeklagte Beate Zschäpe beharrlich schweigt. Ob sie am Ende tatsächlich als Mörderin verurteilt werden kann, bezweifeln manche Experten.
"Duckmäusertum" in Behörden
Als sichtbares Zeichen gegen Rechtsextremismus und Ausdruck der Lernfähigkeit des Staates regte Ombudsfrau John eine zentrale Anlaufstelle für Opfer rechter Gewalt an. Die frühere Berliner Ausländerbeauftragte könnte sich eine Stiftung vorstellen, in deren Arbeit die Angehörigen der NSU-Opfer eingebunden werden sollten. Außerdem regte John eine Beschwerdestelle für polizeiliches Fehlverhalten und dezentrale Beratungsstellen zum Thema Rechtsextremismus an. Das Versagen der Sicherheitsbehörden ist aus ihrer Sicht die Folge von "Vorurteilen und Duckmäusertum". "Es wäre gut, wenn wir Frühwarnstellen hätten", fasste die Ombudsfrau der Bundesregierung ihre Vorschläge zusammen.
Britta Schellenberg vom Münchener Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) sagte, sie vermisse beim Kampf gegen Rechtsextremismus ein "schlüssiges staatliches Gesamtkonzept". Es gebe viele Einzelmaßnahmen, aber die Gewährung von Projektmitteln sei vor allem "reaktiv". Schellenberg plädierte vor dem NSU-Untersuchungsausschuss dafür, Initiativen gegen Rechtsextremismus dauerhaft zu unterstützen. Trotz regionaler Schwerpunkte in Deutschland zeige sich, "dass rechtsextreme Gewalt überall sein kann", betonte die CAP-Expertin.
Expertin Schellenberg: "Opferperspektive unterbelichtet"
Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern dominiere in Deutschland zudem eine starke "Täterfixierung", während die Opferperspektive und der Diskriminierungsschutz "unterbelichtet" seien, bemängelte Schellenberg. Unter Hinweis auf die vielen Opfer – nicht nur des NSU – sprach sie von einem "hochgradig gewalttätigen und innovationsfreudigen Rechtsextremismus".
Bernd Wagner vom Ausstiegsprogramm für Rechtsextremisten namens "Exit Deutschland" warf den staatlichen Behörden vor, die Entwicklung der Szene verschlafen zu haben. Seit 1987 befasse er sich mit dem Thema, stets habe es geheißen, das sei alles "nicht so schlimm". Der Verfassungsschutz habe die Nazis im Blick, die rechtsextreme NPD sei ein Auslaufmodell – solche Parolen habe er immer wieder gehört. Vor dem NSU-Untersuchungsausschuss forderte Wagner deshalb, die Analyse des Rechtsextremismus müsse "deutlich vom Verfassungsschutz entkoppelt" werden. Seine Organisation habe oft schneller als die Behörden erkannt, wann und wo sich rechtsextreme Strukturen gebildet hätten.
Kriminalist sieht Einflüsse des "alten Kasernenhofstils"
Defizite in der Polizei-Ausbildung kritisierte der Kriminalist Günther Schicht. Er könne nicht ausschließen, dass die Einflüsse des "alten Kasernenhofstils" immer noch existent seien. Es gebe Belege für "latenten Rassismus", sagte Schicht unter Verweis auf vereinzelte Untersuchungen. Es fehle jedoch eine systematische Evaluierung. Trotz guter Fortbildungsangebote für den Umgang mit Rechtsextremismus und Rassismus käme das Thema "in der Breite nicht an".
Die Analysen und Anregungen der Sachverständigen passen trefflich zu dem Bild, das der NSU-Untersuchungsausschuss in den zurückliegenden 15 Monaten gewonnen hat. Der Vorsitzende des parlamentarischen Gremiums, Sebastian Edathy (SPD), warf den staatlichen Behörden vor, bei der lange verkannten, fremdenfeindlich motivierten Mordserie "vorurteilsbeladen und mit Scheuklappen" ermittelt zu haben. "Das war eines Rechtsstaates unwürdig", lautet Edathys vernichtendes Fazit.
Debatte über Abschlussbericht im September
In den kommenden Monaten wird der NSU-Untersuchungsausschuss seinen umfangreichen Abschlussbericht verfassen. Anfang September, wenige Wochen vor der Bundestagswahl, soll im Parlament darüber debattiert werden. In einem Punkt sind sich die Abgeordneten schon lange fraktionsübergreifend einig: dass die Sicherheitsbehörden reformiert werden müssten. Hartfrid Wolff, FDP-Obmann im Untersuchungsausschuss, hat dafür bereits ein Papier mit konkreten Vorschlägen unterbreitet.
Ginge es nach Wolff, sollte sich der Bundestag auch in der nächsten Legislaturperiode im Rahmen eines Ausschusses mit dem NSU-Terror und seinen Folgen befassen. Die Entscheidung muss allerdings der dann neugewählte Bundestag treffen.