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Mehr als Betroffenheit

Andrea Grunau18. Februar 2013

Neun Männer wurden bei ihrer Arbeit brutal von Neonazis erschossen. Bundespräsident Gauck hat die Familien empfangen. Sie erlebten jahrelang Misstrauen statt Mitgefühl. Jetzt wünschen sie sich mehr als warme Worte.

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Bundespräsident Joachim Gauck trifft Angehörige der Neonazi-Mordopfer (Foto: Reuters)
Bild: Reuters

15 Polizisten stürmten das Zuhause von Semiya Simsek, kurz nachdem ihr Vater Enver Simsek am 9. September 2000 an seinem Blumenstand in Nürnberg erschossen worden war. Sie hätten ihre ahnungslose Mutter gefragt, wie sie Kaffee trinken könnte, nachdem sie ihren Mann getötet hätte. Das berichtete die Tochter, die seit ihrer Heirat in der Türkei lebt, der türkischen Zeitung "Milliyet".

"Die Polizei, dein Freund und Helfer", so heißt es in Deutschland. Menschen wie die Simseks oder Kubasiks, deren Familien nicht aus Deutschland stammten und denen skrupellose Neonazi-Mörder durch den Mord am Vater, Ehemann, Bruder oder Sohn auch das eigene Leben zerschossen, haben das anders erlebt.

Nicht Opfer sein dürfen

"Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein", sagte Semiya Simsek vor der Bundeskanzlerin und 1200 Gästen bei der offiziellen Gedenkfeier in Berlin vor einem Jahr. Ihr Vater war das erste Opfer in der Neonazi-Mordserie, zu der sich der "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) bekannte, doch das wurde erst nach dem Tod zweier Neonazis durch den Fund der Mordwaffe und ihres Bekennervideos im November 2011 bekannt. Die Polizei verdächtigte im Mordfall Simsek seine Frau und ihren Bruder als Täter, den Vater selbst als Drogenhändler. Ein möglicher rechtsextremer Hintergrund der Tat wurde nicht erforscht, die Morde gingen weiter.

Die Angehörigen Semiya Simsek (r.) und Gamze Kubasik sprechen bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt (Foto: dpa)
Semiya Simsek (r.) und Gamze Kubasik bei der Gedenkfeier für die Opfer des Neonazi-TerrorsBild: picture-alliance/dpa

Einseitige Ermittlungen, Familien "unter Generalverdacht"

Selbst nachdem acht weitere Männer in Nürnberg, Hamburg, München, Rostock, Dortmund und Kassel mit derselben Waffe wie Enver Simsek brutal erschossen worden waren, ermittelten die Behörden vor allem im Umfeld der Opfer, denen sie kriminelle Kontakte unterstellten. Medien schrieben über "die Türkenmafia". Opfer und Familien mit Migrationshintergrund stellte man "unter Generalverdacht", so formuliert es Rechtsanwalt Sebastian Scharmer im DW-Interview.

Scharmer vertritt Gamze Kubasik. Ihr Vater Mehmet Kubasik wurde am 4. April 2006 in seinem Kiosk in Dortmund durch Schüsse in den Kopf getötet. Nach dem Mord durchsuchten Beamte und Drogenhunde das Wohnhaus der Familie, berichtet Scharmer. Die Angehörigen wurden gefragt, "was sie damit zu tun hätten". Nach Kenntnis der Akten nennt es Anwalt Scharmer schockierend, "dass über so lange Zeit überhaupt nicht in Erwägung gezogen wurde, dass ein rechtes Tatmotiv bestehen könnte". Man habe extrem einseitig ermittelt, darin sieht er Hinweise auf "einen strukturellen Rassismus".

Die Witwe des ermordeten Mehmet Kubasik kniet vor dem Gedenkstein für ihren Mann (Foto: dpa)
Die Mutter von Gamze Kubasik am Gedenkstein für ihren ermordeten Ehemann Mehmet KubasikBild: picture-alliance/dpa

Kanzlerin Angela Merkel hat bei der Gedenkfeier von einer "Schande für Deutschland" gesprochen und sich für die falschen Verdächtigungen der Opfer und Familien entschuldigt. Die Ermittler selbst hätten das bis heute nicht getan, sagt Scharmer. Auch die von der Kanzlerin versprochene lückenlose Aufklärung der Morde und Aufdeckung der Hintergründe sei noch nicht erfolgt. Vom Treffen mit Bundespräsident Joachim Gauck erhoffte sich seine Mandantin Gamze Kubasik "mehr als warme Worte". Es sei wichtig, dass Gauck auch die Fehler und Probleme benenne und klare Konsequenzen fordere, sagt Scharmer, "sonst wird sich das immer wieder so abspielen können".

Ombudsfrau beklagt Misstrauen und kalte Haltung gegenüber Angehörigen

Das Treffen der Angehörigen mit dem Bundespräsidenten im Schloss Bellevue begleitete Barbara John, Ombudsfrau der Bundesregierung, Ansprechpartnerin für die Hinterbliebenen der Neonazi-Mordserie wie auch für die Opfer der NSU-Bombenanschläge in Köln. Sie hat Kontakt zu mehr als 70 Betroffenen. John, früher 22 Jahre Ausländerbeauftragte in Berlin, versucht ihnen unbürokratisch zu helfen, gerade im Umgang mit Behörden. Dort müssten sie bis heute hören: "Was wollen Sie? Opfer? Nein, das hat doch gar keinen Zusammenhang mehr mit den damaligen Ereignissen." John beklagt diese "kalte Haltung" gegenüber Menschen, die viele Jahre vergeblich auf Hilfe warteten. Einige Familien seien durch die Ermordung des Hauptverdieners in eine Schuldenkrise geraten, Kinder mussten ihre Ausbildung unterbrechen, Familien verloren ihre Wohnung.

Die Ombudsfrau der Bundregierung für die Opfer der Terroranschläge der NSU, Barbara John, spricht mit einer türkischen Frau (Foto: dpa)
Barbara John spricht viel mit den Angehörigen der NSU-MordopferBild: picture-alliance/dpa

Sie bestätigt, wie sehr die Familien unter dem falschen Verdacht der Ermittlungsbehörden gelitten hätten: "Das war das Schrecklichste und Furchtbarste, weil sie damit aus der Gesellschaft ausgeschlossen waren." Während die Täter hasserfüllt waren, sagt John, "waren die Ermittler grundsätzlich misstrauisch. Das ist auch eine Form der Ablehnung und etwas, was unbedingt geändert werden muss". Viele schlimme Erfahrungen haben die Angehörigen gemacht, sagt John. Eine Witwe erzählte am Arbeitsplatz, dass ihr Ehemann getötet wurde. Sie bekam zur Antwort: "Naja, aber wie viele Deutsche sind schon von Ausländern umgebracht worden."

Hässliche Proteste gegen Gedenken an Mordopfer

Gegen das Gedenken an die Opfer gab es auch Widerstand. In Kassel war der 21-jährige Halit Yozgat am 6. April 2006 in seinem Internet-Café in den Armen seines Vaters Ismail Yozgat verblutet. John setzte sich für Entschädigungszahlungen und die Erstattung der Beerdigungskosten für alle Familien ein, doch Ismail Yozgat lehnt alle Zahlungen im Zusammenhang mit dem Mord an seinem Sohn ab, sogar für die Fahrtkosten zum Treffen mit dem Bundespräsidenten. Bei der Gedenkfeier in Berlin wünschte er sich, die Holländische Straße in Kassel, wo sein Sohn geboren und ermordet wurde, in Halit-Straße umzubenennen. Das ließ sich nicht durchsetzen, doch ein namenloser Platz in der Nähe wurde zum Halit-Platz, eine Gedenktafel erinnert jetzt an die NSU-Morde.

Straßenschild Halitplatz in Kassel (Foto: dpa)
In Kassel wurde ein Platz nach Halit Yozgat benannt, der in der Nähe mit 21 Jahren ermordet wurdeBild: picture-alliance/dpa

Als die Haltestelle für die Straßenbahn auf den Platz umbenannt werden sollte, gab es "hässliche" Proteste im Internet, berichtet Barbara John: "Jetzt bestimmen schon die Türken, wie unsere Straßen heißen". Mittlerweile steht auch an der Haltestelle "Halit-Platz". In München und Rostock fehlten noch Gedenktafeln, sagt John, sie will Bundespräsident Gauck bitten, sich dafür einzusetzen.

Aus Vertrauen wurde Unsicherheit und auch Angst

Viele Betroffene hatten bis zum Mord an ihren Angehörigen großes Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat. Seit sich im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages zeigte, wie viele Fehler es bei der Aufklärung gab, wie Akten vernichtet und Informationen blockiert wurden, seien viele enttäuscht und "sehr nachdenklich geworden", sagt Barbara John.

Das gelte auch für Familie Kubasik, bestätigt Anwalt Sebastian Scharmer. Das Vertrauen in den Schutz für sie als Bürger sei "natürlich arg enttäuscht". Seine Mandantin Gamze Kubasik wohne nach wie vor in Deutschland und fühle sich hier auch zu Hause, sagt Scharmer, ihr ursprüngliches Vertrauen "ist allerdings, glaube ich, für immer zerstört".

Bitterer Brief, Absagen an Gauck und die Frage nach der Heimat

"Was wollen Sie an unserem Leid ändern? Glauben Sie, es hilft mir, wenn Sie betroffen sind?", traurig, zornig und bitter klingt der Brief, den Aysen Tasköprü, die Schwester eines NSU-Mordopfers, an Bundespräsident Joachim Gauck richtete, aber nur an Medien verschickt hat. Weil sie nach den Vorgaben des Bundespräsidialamts für das Treffen in "persönlicher" Atmosphäre ihre Anwältin nicht mitbringen durfte, reiste ihre Familie nicht nach Berlin, ebenso wie die Familie eines anderen Mordopfers. Süleyman Tasköprü wurde am 27. Juni 2001 in Hamburg erschossen, er hinterließ eine kleine Tochter von drei Jahren. Auch die Hamburger Polizei unterstellte jahrelang eine Verbindung zum kriminellen Milieu.

Ein Bild des NSU-Mordopfers Süleyman Tasköprü mit Blumen an einer Hauswand (Foto: dpa)
In Hamburg wurde der Obst- und Gemüsehändler Süleyman Tasköprü erschossenBild: picture-alliance/dpa

Gut zehn Jahre später sah seine Schwester Aysen im Fernsehen das Bekennervideo der NSU mit Fotos der Mordopfer am Tatort. In ihrem Brief, der der Deutschen Welle vorliegt, schreibt sie: "Ich habe angefangen zu schreien und konnte nicht wieder aufhören. Da lag mein Bruder in seinem eigenen Blut auf den rot-weißen Fliesen, die ich so gut kannte". Damals sei etwas in ihr zerbrochen. Sie beschreibt Probleme mit Arbeitgeber und Krankenkasse, als sie nicht mehr arbeiten konnte. Sie schildert, wie eine Sachbearbeiterin im Rathaus zu ihrem Sohn sagte, er sei kein Deutscher und der Kleine ihr sehr ernsthaft erklärte, "dass er sehr wohl Deutscher sei, er habe schließlich einen deutschen Pass".

Sie sei unendlich traurig, schreibt Aysen Tasköprü, und weiter: "Seitdem wir wissen, dass mein Bruder ermordet wurde, nur weil er Türke war, haben wir Angst. Was ist das für eine Heimat, in der du erschossen wirst, weil deine Wurzeln woanders waren?" Der Titel des Buches, das Semiya Simsek Demirtas über ihre Erfahrungen geschrieben hat und im März in Berlin vorstellen will, klingt wie eine Antwort: "Schmerzliche Heimat".