"Bitter für die Familien"
6. Mai 2014Deutsche Welle: Herr Daimagüler, ein Jahr NSU-Prozess, in dem sie zwei Familien von Mordopfern aus Nürnberg vertreten, war das ein gutes Jahr für die Nebenkläger?
Mehmet Daimagüler: Ja und Nein. Es war insofern ein gutes Jahr, als sich nach meiner Einschätzung die Anklageschrift in weiten Teilen bestätigt. Ich denke, dass Frau Zschäpe zu Recht wegen Mordes angeklagt ist. Das ist keine Person, die zur falschen Zeit am falschen Ort war oder gar nur ein dummes Heimchen am Herd, sie war integraler Teil der Gruppe. Ohne sie hätte es die Gruppe und die Taten nicht gegeben. Ich denke, dass wir das auch belegen können, insofern ist die Anklageschrift der Generalbundesanwaltschaft richtig.
Es war kein so gutes Jahr, wenn man die Erwartung hatte, dass wir in diesem Verfahren die Wahrheit erfahren werden. Zur Wahrheit gehören die Hintergründe: Warum wurden diese Menschen getötet? Gab es örtliche Helfershelfer? Welche Rolle spielten V-Leute und Verfassungsschutzbehörden? All diese Fragen kommen zu kurz und ich denke, dass das dazu führen wird, dass wir nur einen Teil der Wahrheit erfahren werden. Das ist ganz, ganz bitter für die Familien, die ich vertrete, die ja nicht das Ziel einer möglichst hohen Haft für die Angeklagten haben. Das ist nicht unser Ziel sondern das Verstehen. Warum mussten diese Menschen sterben und warum konnten die Morde nicht verhindert werden?
Die Bundesanwaltschaft argumentiert, man dürfe den Prozess nicht verzögern und ihn nicht mit einem Untersuchungsausschuss verwechseln. Es gehe nur um die Schuld der Angeklagten. Können Sie die Argumente nachvollziehen?
Nein, das kann ich nicht. Ich war oft zu Gast bei den Untersuchungsausschüssen. Dort hieß es immer wieder, diese Frage gehört in ein Gerichtsverfahren. Jetzt höre ich im Gerichtssaal immer wieder bei bestimmten Fragen, nein, das gehört in einen Untersuchungsausschuss. So wird der Ball hin und her geschoben, am Ende bleibt eine Wahrheitslücke. Ich glaube, dass auch juristisch die Haltung der Bundesanwaltschaft an der Stelle fragwürdig ist, denn es ist auch für die Frage der Strafzumessung wichtig, zu verstehen, welche Rolle Sicherheitsorgane gespielt haben. Wir wollen auch, dass das Verfahren nicht unnötig in die Länge gezogen wird, aber es muss auch den Anspruch haben, Dinge aufzuklären und nicht einfach abzuurteilen. Wenn wir das nicht tun, laufen wir Gefahr, dass am Ende ein fader Beigeschmack bleibt, dass eben nicht alles getan wurde, um aufzuklären.
Welche Empfindung ist bei Ihren Mandanten vorherrschend?
Es ist Enttäuschung, zum Teil Entsetzen. Wenn im Verfahren schwerste Mordtaten aufgerufen werden, an die Wände Fotos der Ermordeten geworfen werden und wenn dann da eine Anklagebank mit Frau Zschäpe an der Spitze vollkommen desinteressiert und ohne jegliche Empathie zu reagieren scheint, ist das sehr schwierig. Die Angeklagte Zschäpe hat das Recht zu schweigen, aber es würde natürlich der Mandantschaft gut tun, ein Wort der Aufklärung zu hören, das tun wir nicht. Ich glaube, das können wir uns als Nichtbeteiligte gar nicht vorstellen, was die Opferfamilien durchgemacht haben und durchmachen müssen. Diese Menschen durften ein Jahrzehnt lang nicht Opfer sein. Sie sind gezeichnet und traumatisiert für ihr Leben.
Was sind die dringendsten Fragen, denen der Prozess sich noch widmen muss?
Erstens die Frage nach dem Netzwerk. Wir müssen davon ausgehen, dass es an den meisten Tatorten lokale Helfershelfer gab. Diese Täter aus Zwickau bzw. Jena hätten an den Tatorten nicht so agieren können, wenn sie nicht lokale Helfer gehabt hätten. Die zweite sehr wichtige Frage: Was wussten V-Leute, was wussten Verfassungsschutzbehörden? Die ganzen Aktenschreddereien im Umfeld der Aufklärungsbemühungen und die Begründungen, warum diese Akten geschreddert wurden, überzeugen überhaupt nicht. Wir hatten bei der Staatsanwaltschaft Strafanzeige gegen unbekannt beim Verfassungsschutz gestellt. Diese Strafanzeigen wurden einfach eingestellt, das hat nicht überzeugt. Auch die Frage nach einer europäischen Dimension ist sehr spannend. Wir wissen, dass es zahlreiche Verbindungen ins europäische Ausland gab. Auch da wurde zu wenig nachgeforscht. Wir müssten mehr machen, weil es bei diesem Verfahren nicht nur um die Frage geht: Sind die Angeklagten schuldig oder nicht? Es geht um die Frage: Können wir dem Rechtsstaat vertrauen? Als Anwalt und Bürger des Landes will und muss ich vertrauen, aber der Rechtsstaat muss auch zeigen, dass das Vertrauen verdient ist.
Sie sind viel in der Türkei unterwegs, wir erreichen Sie in Istanbul, wie sieht man dort den NSU-Prozess?
Mit einer gewissen Ernüchterung, er fing ja denkbar ungünstig an mit den Presseplätzen, die nicht für türkische Medien reserviert waren. Mittlerweile hat man das Gefühl, dass das Gericht und insbesondere der Vorsitzende Richter das Verfahren sehr anständig, sehr gut, sehr professionell führt. Man hat eher das Gefühl, dass die Sicherheitskräfte nicht an einer vollumfänglichen Aufklärung interessiert zu sein scheinen. Das zeigt sich bei allen Gesprächen, nicht mit Politikern oder Staatsanwälten, sondern mit den Bürgern auf der Straße: "Naja, wenn die aufklären wollten, dann würden nicht diese Akten geschreddert."
Herr Daimagüler, Sie sind Wirtschaftsanwalt mit einem türkischen Elternhaus und sagten einmal über die NSU-Opfer: "Die Toten sind tot, weil sie so sind wie ich". Damals fragten Sie sich, ob Ihnen das Mandat gut tun würde. Wie sehen Sie das nach einem Jahr NSU-Prozess?
Ich habe beschlossen, über diese Frage nicht mehr nachzudenken, sondern einfach meine Arbeit mit der gebotenen Distanz zu tun. Sonst macht man sich angreifbar und verletzlich und kann am Ende des Tages nicht mehr arbeiten. Ich verschiebe diese Frage auf eine Zeit, wenn das Verfahren vorbei ist.
Mehmet G. Daimagüler ist Wirtschaftsanwalt, Unternehmensberater und Buchautor in Berlin. Er vertritt Familienangehörige der Nürnberger NSU-Mordopfer Abdurrahim Özüdogru und Ismail Yasar.
Das Interview führte Andrea Grunau.