NS-Raubkunst: Warum es so wenige Rückgaben gibt
3. Dezember 2018Historiker gehen davon aus, dass mehr als fünf Millionen Kunstgegenstände während des Zweiten Weltkriegs unrechtmäßig den Besitzer wechselten. Aber obwohl es sich "um den größten Diebstahl der Geschichte" handelt, wie es der US-amerikanische Diplomat und Anwalt Stuart Eizenstat auf einer Tagung zur NS-Raubkunst in Berlin formulierte, wird das Thema gerne unter den Tisch gekehrt. Eizenstat war mit dafür verantwortlich, dass vor 20 Jahren auf der Holocaust-Konferenz in Washington eine Erklärung verfasst wurde, die festlegte, dass Nazi-Raubkunst identifiziert und so rasch wie möglich restitutiert werden solle. Damals einigten sich Vertreter aus 44 Ländern darauf, die eigenen Museumsbestände zu überprüfen. Das Abkommen galt als revolutionär.
Doch 20 Jahre später hält Marc Masurovsky die Washingtoner Erklärung für gescheitert. Der Historiker ist Mitbegründer des "Holocaust Art Research Project" (HARP), das 1997 in Washington gegründet wurde. Aufgabe des HARP ist die Archivrecherche. Doch unfreiwillig wurde Masurovsky zu einem Restitutionsaktivisten. Aus dem Kopf könne er ein Dutzend Kläger nennen, die immer noch keine Gerechtigkeit gefunden hätten, sagte er.
Vielleicht war Eizenstat zu optimistisch. Mehr als 100.000 Gemälde sind bis heute verschwunden. Und wenn Erben die Rückgabe von Werken berühmter Künstler wie Picasso oder El Greco aus Museen zurückfordern, finden sie sich vor Gericht wieder, verstrickt in Prozesse, die Jahrzehnte dauern.
Tabuthema NS-Raubkunst
"Das Glas ist vielleicht etwas mehr als halb voll", bilanzierte Eizenstat kürzlich in einem Interview, fügte aber hinzu: "Erinnern Sie sich daran, wo wir vor 1998 standen. Ohne die Washingtoner Erklärung hätten wir uns gar nicht von der Stelle bewegt."
Das Thema Provenienzforschung, also die Suche nach der Herkunft der Werke in der eigenen Sammlung, war nach Kriegsende 1945 jahrzehntelang ein Tabuthema. Kuratoren aus ganz Europa interessierten sich nicht dafür, ob sich in ihren Beständen Werke befinden, die zwischen 1933 und 1945 NS-verfolgunsbedingt entzogen wurden, wie es im Fachjargon heißt.
"Als ich Mitte der 1990er Jahre anfing, für Sotheby's zu arbeiten, lautete das Motto: 'Erwähne nicht den Krieg'", sagte Lucian Simmons, der Leiter der Provenienzforschung des Londoner Auktionshauses. "Stammte eines der in die Auktion eingelieferten Objekte aus der Kunstsammlung des NS-Funktionärs Hermann Göring, so wurde man aufgefordert, diese Herkunft zu unterschlagen und stattdessen zu schreiben: 'Ehemals im Besitz eines hohen Nazi-Beamten.'"
Keine rechtliche Verpflichtung auf Restitution
Auch juristisch gab es kein Recht auf Rückerstattungen. In Europa waren private Ansprüche nach nationalem Eigentumsrecht fast durchgängig verjährt. Eine Herausgabe von Gegenständen ist laut Bürgerlichem Gesetzbuch in Deutschland nach 30 Jahren nicht mehr verpflichtend. In Frankreich verbieten die Kulturgütergesetze die Entnahme von Kunstwerken aus staatlichen Sammlungen.
Die größte Errungenschaft der Washingtoner Prinzipien besteht darin, moralischen Druck auf öffentliche Einrichtungen aufgebaut zu haben. Ungeachtet gesetzlicher Fristen zur Geltendmachung von Restitutionsansprüchen sollen verfolgungsbedingt entzogene Werke zurückgegeben werden. In der Erklärung formulierten die Unterzeichner den Wunsch nach größtmöglicher Transparenz der Museumssammlungen und der Ermöglichung eines uneingeschränkten Zugangs der Antragsteller zu Archiven.
Die Erklärung ermutigte die Regierungen, Strukturen zu schaffen, die es den rechtmäßigen Besitzern ermöglichen sollte, ihre Kunst zu finden und eine "gerechte und faire Lösung" zu erreichen.
Der kleinste gemeinsame Nenner
Die Formulierung "gerechte und faire Lösung" ärgert Masurovsky jedes Mal, wenn er sie hört. Seiner Meinung nach gebe es weder etwas Gerechtes noch etwas Faires in den Washingtoner Prinzipien. Die Erklärung ignoriere die Perspektive der Kläger. "Stuart Eizenstat hat zugegeben, dass er für seinen Entwurf die von amerikanischen Museen veröffentlichten Richtlinien verwendet habe", so der Historiker. "Dabei haben sich gerade die US-amerikanischen Museen in der Vergangenheit am unerbittlichsten gegen die Restitution gewehrt."
Der springende Punkt für Masurovsky ist, dass die Prinzipien lediglich ein Appell und damit juristisch nicht bindend waren. "Alle gingen zufrieden nach Hause - sie hatten sich nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt", sagt er.
Einem Bericht der Washingtoner Holocaust-Konferenz von 2014 zufolge habe die Mehrheit der Staaten, die die Washingtoner Prinzipien 1998 unterzeichnet habe, seitdem so gut wie nichts unternommen. Lediglich fünf von 44 Ländern - Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Österreich und Großbritannien - sind der Forderung nach der Bildung von "Kommissionen zur Schlichtung strittiger NS-Raubkunstfälle" nachgekommen.
Wo stehen Deutschland und die USA?
In den USA scheiterten jegliche Versuche, eine solche Schlichtungsstelle einzurichten, was bedeutet, dass die Erben kostspielige Gerichtsverfahren in Kauf nehmen müssen, um ihre Ansprüche geltend zu machen.
Nichtsdestotrotz sind die USA nach wie vor eine der günstigsten Gerichtsbarkeiten für Kläger, auch wegen des 2016 unterzeichneten Holocaust Expropriated Art Recovery Act (HEAR Act). Es handelt sich um ein Gesetz, das den Opfern der Verfolgung im Holocaust und ihren Erben eine angemesse Gelegenheit bietet, von den Nazis beschlagnahmte Kunstwerke zurückzuerhalten.
In Deutschland sorgte der Fall Gurlitt 2012 für eine bundesweite Debatte über NS-Raubkunst. Damals entdeckten Fahnder der Kriminalpolizei München in der Wohnung von Cornelius Gurlitt rund 1280 wertvolle Kunstwerke. Eine Berliner Kunstexpertin wurde darauf mit der Erforschung der Herkunft beauftragt. Der Fall Gurlitt sorgte für eine massive Zunahme der Provenienzforschung. Die "Lost Art Internet Database" listet derzeit mehr als 34.524 Werke in den Beständen öffentlicher Museen auf, deren Herkunft verdächtig ist. Vor fünfzehn Jahren waren es lediglich einige hundert.
Auch die deutsche Streitschlichtungsstelle wird regelmäßig in Anspruch genommen. Denn es gilt: Moral vor Recht. Anders als im benachbarten Österreich gibt es in Deutschland kein Restitutionsgesetz, das die Rückgaben deutlich beschleunigen würde.
Dann gibt es noch die so genannte Limbach-Kommission, ein von der Bundesregierung einberufenes Gremium, das Empfehlungen an Museen abgibt. Sie kann aber nur dann eingreifen, wenn sich Kläger wie Beklagter gemeinsam an einen Tisch setzen. Doch genau das wollten einige Museen gerade nicht zu tun.
Privatpersonen sind von der Washingtoner Erklärung ausgenommen
Hinzu kommt, dass private Sammler oder Auktionshäuser - weder in Deutschland noch international - nicht dazu verpflichtet sind, Werke aus ihrem Besitz herauszugeben. Während einige große Auktionshäuser wie Sotheby's und Christie's inzwischen über umfangreiche Provenienzabteilungen verfügen und jedes Objekt auf seine Vergangenheit untersuchen lassen, bevor sie es verkaufen, halten sich viele Kunsthändler bedeckt. Solange sich daran nichts ändert, haben potentielle Kläger keine Chance, den Großteil der geraubten Kunstobjekte jemals wieder zurückzubekommen, sagte Marc Masurovsky.
Trotz aller Unzulänglichkeiten der Washingtoner Erklärung ist es positiv, dass die Debatte um NS-Raubkunst Teil der Aufarbeitung des Holocaust geworden und endlich in der breiten Öffentlichkeit angekommen ist. Aber die Fortschritte in der Restitution gehen nur langsam voran und die letzten Zeitzeugen werden in einigen Jahren nicht mehr leben.