NS-Erinnerung: Was geht und was geht nicht?
24. Februar 2019"Nach hinten raus zum Garten ist es schön hell, da haben wir jetzt neue, offene Fenster. Das würden wir uns auch für die vorderen Räume wünschen." Birgit Kroll, die Leiterin der Kita Sonnenstrahl, die 50 Kinder in Berlin-Schöneweide betreut, führt durch die bunt gestalteten Räume mit tobenden Kindern, die nicht vermuten lassen, dass hier vor mehr als 70 Jahren NS-Zwangsarbeiter untergebracht waren. Die vorderen - kleinen - Fenster aber sollen erhalten bleiben, so will es der Denkmalschutz. Birgit Kroll seufzt, erzählt von weiteren Schwierigkeiten bei Dachsanierung und Wärmeisolierung. Man lebe doch im Jetzt, für die Kinder. Das heißt aber nicht, dass sie sich nicht dem Gedächtnis des Ortes bewusst ist: "Wenn man hier im Frühdienst alleine ist, ist das schon ein bisschen komisch."
Die Kita Sonnenstrahl gehört zu einem Baracken-Ensemble von 1943, das als NS-Zwangsarbeiterlager mitten in ein Wohngebiet im Berliner Stadtteil Schöneweide gebaut wurde. Es ist eines von geschätzten 3000 solcher Lager der Hauptstadt - und heute das einzige, das noch erhalten ist. Da hier die 13 Baracken aus Stein und nicht wie sonst üblich aus Holz gebaut worden waren, überstanden sie sowohl den Krieg als auch später die Wendewirren - und erinnern heute stellvertretend an rund 500.000 in Berlin ausgebeutete NS-Zwangsarbeiter. Die eine Hälfte der Baracken ist öffentliches Dokumentationszentrum, die andere bereits seit DDR-Zeiten vermietet oder in Privatbesitz: Kita, Werkstätten, Physiotherapie, Sauna, Autohaus und ein Kegelverein.
Allgegenwärtiges Verbrechen
Obwohl es um die 13 Millionen Menschen waren, die zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt wurden - darunter zivile Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, Strafgefangene und KZ-Häftlinge - sind sie bis heute eine "vergessene Opfergruppe", sagt Christine Glauning. Sie ist die Leiterin des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit, das heute in sechs Baracken unterbracht ist. Zuvor waren diese vom Impfinstitut der DDR genutzt worden. "Zwangsarbeit war sichtbar, ein öffentliches Verbrechen", so die Historikerin. Meist liefen die Zwangsarbeiter in Kolonnen zu den Betrieben, Werkstätten, Fabriken, Friedhöfen oder auch zu den Privathaushalten, in denen sie ausgebeutet wurden. "Es gab viele Berührungspunkte mit der Zivilbevölkerung. Das ließ sich trotz strenger Aufsicht nicht verhindern."
Die erste Dauerausstellung des Dokumentationszentrums, die 2013 in einer der Baracken eröffnete, heißt daher auch "Alltag Zwangsarbeit". Anhand von Biografien werden multimedial die Lebensgeschichten der Opfer erzählt. Wie die der Polin Genowefa Czub, die aus dem KZ Ausschwitz zur Zwangsarbeit in mehreren Fabriken nach Berlin verlegt wurde. Oder die des Russen Nikolai Fedorowitsch Galuschkow, der mit nur 15 Jahren auf einem Friedhof als Totengräber arbeiten musste. Oder die der Ukrainerin Sinaida Baschlai, die 1942 nach Berlin verschleppt wurde und als Dienstmädchen eines Fliegeroffiziers arbeiten musste.
Die Ausstellung berührt, die ehemaligen Zwangsarbeiter kommen dem Besucher durch die privaten Fotos und aktuellen Videointerviews sehr nah. Läuft man in diesem Gedenken aus der Baracke am Dokumentationszentrum vorbei die Straße herunter, verschlägt es einem erst einmal die Sprache. Wie soll man in einer weiteren Baracke in die Sauna gehen, wo hier Zwangsarbeiter im Winter froren? Wie ein Auto kaufen, wenn einst Zwangsarbeiter in metallverarbeitenden Betrieben ausgebeutet wurden? Wie "alle neune" kegeln angesichts des Leids, dass hier herrschte?
Wurstmuseum, Selfies und Picknick?
"Ich finde das interessant", sagt Christine Glauning. "Es ist inhaltlich noch einmal eine andere Ebene im Umgang mit historischen Orten. Was kann man machen, was nicht?" Eine deutschlandweit kontrovers geführte Diskussion, zuletzt in Thüringen. Das Bundesland ist bekannt für seine Bratwurst, das entsprechende Museum gut besucht und suchte nach einer Erweiterungsmöglichkeit. Gefunden wurde diese ausgerechnet auf dem Gelände eines Außenlagers des Konzentrationslagers Buchenwald. Nach einem öffentlichen Sturm der Entrüstung wurde mittlerweile ein anderer Ort gewählt.
Historikerin Christine Glauning spricht sich nicht pauschal gegen Umnutzungen von Erinnerungsorten aus, in einem Fall aber bezog sie klar Stellung: "Vor ein paar Jahren wurde diskutiert, ob eine Flüchtlingsunterkunft in einer ehemaligen Baracke eines KZ-Außenlagers eingerichtet werden könnte. Das halte ich einfach für falsch." Tatsächlich wurden nach Kriegsende deutsche Flüchtlinge und Kriegsgefangene teilweise in ehemaligen Lagern untergebracht.
Auch im Zentrum von Berlin wird oft kontrovers über den angemessenen Umgang mit dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas diskutiert. Der Künstler Shahak Shapira provozierte einst mit einer Fotomontage : Er setzte Fotos von fröhlichen Besuchern, die sich am Denkmal für ein Selfie in Szene setzen, neben Fotos von Massengräbern ermordeter Juden. Peter Eisenman, der Architekt des Stelenfeldes, sah das weniger streng. In einem Interview mit "Spiegel Online" sagte er einst, dass das Denkmal kein "heiliger Ort" sei. "Menschen werden in dem Feld picknicken. Kinder werden in dem Feld Fangen spielen. Es wird Mannequins geben, die hier posieren, und es werden hier Filme gedreht werden."
Suche nach dem kollektivem Gedächtnis
Birgit Kroll hätte gerne im Kita-Garten die lange Außenwand der benachbarten Baracke gemeinsam mit den Kindern bunt gestaltet. "Hurra, wir machen was Kreatives! Aber nein, der Denkmalschutz ist dagegen", seufzt Kroll und murmelt ein "Ist halt so". Ob sie das Dokumentationszentrum schon einmal besucht habe? Nein, gesteht sie. "Ich interessiere mich sehr für Geschichte, aber ich gehe da auch immer sehr emotional dran. Mein Großvater war selbst Kriegsgefangener."
Christine Glauning, die zuvor schon in NS-Gedenkstätten gearbeitet hat, hat dies schon oft beobachtet: "Man fährt lieber weiter weg, als die Gedenkstätte direkt vor der Haustür zu besuchen." Ein Ort des Verbrechens ist schwer mit dem eigenen Gefühl von Heimat, von Zuhause zu kombinieren. Es nagt an der eigenen Identität, bringt diese ins Wanken. Ein Ort der Demütigung passt nicht zu einem Ort der Geborgenheit.
Je länger man als Besucher den Alltag in Berlin-Schöneweide beobachtet, desto mehr überrascht die Unaufgeregtheit und der unterschiedliche Umgang mit Erinnerung. "Gedenkstätten sollen irritieren", sagt Glauning. Hier ist es eher die Umnutzung der Baracken, die zu Reibungen führt. Wieweit sollte Denkmalschutz gehen, wenn es um die Versorgung von Kindern in einer Kita geht? Muss eine Baracke, in der sich seit Jahrzehnten eine Autowerkstatt befindet, in der gleichen trostlosen Farbe angestrichen werden wie das Dokumentationszentrum? Fängt Erinnerung nicht zwangsläufig gerade dann an, wenn sie sich an der Gegenwart und dem Alltäglichen reibt?