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Politik

Noten: Wie bewertet man Schüler sinnvoll?

3. Februar 2019

150 Grund- und Sekundarschulen in Hessen haben künftig die Wahl, ob sie ihre Schüler per Ziffernnote oder per schriftlicher Bewertung beurteilen. Ein DW-Streitgespräch über die Vor- und Nachteile dieser Entscheidung.

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Deutschland Schulunterricht
Bild: picture-alliance/dpa/I. Kjer

Die Fraktion der Grünen im hessischen Landtag hat durchgesetzt, dass 150 Schulen des Bundeslandes die Wahl haben, ihre Schüler weiterhin klassisch per Ziffer zu benoten oder ihnen stattdessen schriftliche Bewertungen auszustellen.

In vielen bundesdeutschen Grundschulen ist die textliche Leistungsbeurteilung längst an die Stelle der klassischen Skala von eins ("sehr gut") bis sechs ("ungenügend") getreten. Während die Noten beanspruchen, den Leistungsstand des einzelnen Schülers eindeutig zu dokumentieren, bietet die schriftliche Bewertung - die sogenannte Berichtnote - die Möglichkeit, die jeweiligen Leistungen differenzierter zu formulieren. Welche Vorteile, welche Nachteile haben die beiden Systeme? Darüber sprachen wir mit Ilka Hoffmann, Mitglied des Geschäftsführenden Vorstands der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), und mit Heinz-Peter Meidinger, dem Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes.

Deutsche Welle: Frau Hoffmann, die hessischen Grünen überlassen 150 Schulen des Landes die Wahl, ob sie ihre Schüler künftig klassisch benoten oder ihnen eine textliche Leistungsbeurteilung ausstellen. Ein Fortschritt in der Bildungspolitik?

Ilka Hoffmann: Ja, denn wir wissen seit vielen Jahren, dass Ziffernnoten nichts über die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler aussagen. Sie drücken nur den Rang eines Kindes in einer bestimmten Lerngruppe aus, und Lerngruppen sind unterschiedlich. Ziffernnoten sagen nichts darüber aus, was ein Kind kann oder nicht kann und wie das Lernen weitergehen kann.

Herr Meidinger, Sie sind skeptisch. Warum?

Heinz-Peter Meidinger: Die klassische Ziffernnote hat einen Vorteil, nämlich den der Eindeutigkeit. Sie signalisiert entweder eine durchschnittliche, eine über- oder unterdurchschnittliche Leistung. Das ist bei den Berichtnoten anders. Dort gibt es keinen einheitlichen Maßstab. In der Folge haben Schüler und Eltern erhebliche Probleme, aus solchen Zeugnissen eine vergleichsbezogene Information über den Stand der Kinder zu erhalten.

"Noten helfen, die Position in der Gruppe einzuschätzen"

Man sollte meinen, diese Eindeutigkeit böte enorme Vorteile, Frau Hoffmann. Jeder weiß, wo er steht.

Ilka Hoffmann: So ist es aber nicht. Ziffernnoten stellen einen Vergleich zwischen Schülern in einer spezifischen Lerngruppe her, der potentiell verletzend ist. Kinder, die in ihrer Entwicklung noch ein bisschen zurückgeblieben sind oder die Prüfungsangst haben, werden durch sie regelmäßig beschämt. Sie sind nicht mehr so motiviert, weiter zu lernen und resignieren schon in der Grundschulzeit. Deshalb sind diese Noten pädagogisch nicht sinnvoll.

Heinz-Peter Meidinger: Eine notenfreie Bewertung birgt aber die Gefahr, dass Kinder nicht lernen, ihre Position in einer Gruppe angemessen einzuschätzen. Schule vermittelt ja nicht nur Wissen und Werte. Sie ist auch eine Sozialisationsinstanz, sie bereitet Kinder und Jugendliche auf das Leben in der Gesellschaft vor. Wir leben in einer straffen Leistungsgesellschaft - Leistung wird durchgehend bewertet. Da können an einer Schule keine komplett anderen Kriterien gelten. Sind die Kinder auf diese Gesellschaft nicht vorbereitet, wird es schwierig für sie. Das wäre ihnen gegenüber unfair.

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Die Kunst der Addition: erste SchritteBild: picture-alliance/dpa/J. Stratenschulte

Frau Hoffmann, wie sollte man die Leistung der Schüler pädagogisch angemessen erfassen?

Ilka Hoffmann: Eine gute Rückmeldung leistet eine Bewertung nach Kompetenzstufen. Darin lässt sich etwa zeigen, ob jemand zum Beispiel Zahlen addieren kann. Gelingt dies erst innerhalb eines Zehners oder kann man schon über einen Zehner hinaus addieren? Dann weiß man, was das Kind als Nächstes zu lernen hat. Ähnlich lassen sich Aussagen etwa über die Lese- und Schreibfähigkeit gewinnen. Man weiß, was das Kind kann und wo man noch weiterarbeiten muss, ohne das Kind zu verletzen. Dies ist wichtig für das Kind, nicht aber, wo die anderen stehen. 

Heinz-Peter Meidinger: Mir scheint, zur Schule gehören auch Prüfungssituationen, gehören Erfolgs- und Misserfolgserlebnisse. Dazu gehört auch die Fähigkeit, mit negativen Rückmeldungen oder mit Leistungseinbruch umzugehen. Das ist eine wichtige Erfahrung, und die vermittelt am besten die Ziffernnote. Es kommt dann natürlich entscheidend darauf an, dass der Schüler weiß, wie er darauf reagieren muss. Kinder mit schlechten Noten muss man unbedingt pädagogisch auffangen. Problematisch ist, wenn das Kind nicht mehr weiter weiß. Das liegt aber nicht an Ziffernnoten selbst, sondern am Umgang mit ihnen.

"Schule soll keinen Konkurrenzkampf lehren"

Ilka Hoffmann: Es ist aber nicht die Aufgabe der Schule, den Kindern Frust oder den sozialen Konkurrenzkampf beizubringen, sondern sie zu ermuntern, Zutrauen zu ihren Fähigkeiten zu haben, Lust am Lernen zu entwickeln und sich anstrengen zu wollen. Dann merken sie, dass ihre Anstrengung sich lohnt und sie auch dann wahrgenommen werden, wenn sie noch nicht so weit sind. So erwerben sie auch wichtige Schlüsselkompetenzen für den Beruf. 

Heinz-Peter Meidinger: Stress kann natürlich negativ sein. Aber er kann auch positiv sein. Dann mündet er in einem Gefühl der Befriedigung über das Geleistete, über eine Herausforderung, die man bewältigt hat. Das formt.

Symbolbild | Schule Unterricht Schulklasse Schüler
"Die Bildungsziele sind mit einer anderen Pädagogik teilweise besser zu erreichen" - so die Grünen in HessenBild: imago/photothek/M. Gottschalk

Ilka Hoffmann: Dieses Gefühl der Befriedigung haben auch Kinder, die keine Ziffernnoten bekommen. Man muss allerdings beachten, dass es immer dieselben Kinder sind, die gestresst sind. Es sind die aus sozial benachteiligten Verhältnissen, jene, die es oft schon in ihrer Familie sehr schwer haben. Denen mutet man dann noch zu, mit Frust umzugehen. Das ist zu viel.

Heinz-Peter Meidinger: Aber Ziffernnoten schützen gerade die Kinder aus benachteiligten Haushalten, und zwar durch die prägnante Information, die sie tragen. Textliche Leistungsbeurteilungen lassen größeren Spielraum zur Interpretation. Darum kommt es bei ihnen sehr darauf an, wie man diese Note "verkauft". Da sind Kinder aus der Mittelschichten und bildungsaffinen Haushalten klar im Vorteil. Sie nutzen einen Startvorteil, der für das weitere Arbeitsleben sehr wichtig ist. Diese ungleichen Chancen werden durch Berichtnoten verstärkt und führen gewiss nicht in eine humanere oder gerechtere Gesellschaft.

Ilka Hoffmann: Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg für den Vorteil der Ziffernnoten für sozial benachteiligte Kinder. Das Gegenteil ist der Fall. Und: Auch Verbalbeurteilungen lassen sich verständlich ausdrücken. Warum die schlechten Ziffernnoten, die gerade sozial benachteiligte Kinder häufig bekommen, sie schützen sollen, leuchtet mir nicht ein. Ziffernnoten haben eben keine Aussagekraft darüber, was man schon kann und wo man sich noch anstrengen kann. Aus einer Berichtnote kann diese Information sehr wohl hervorgehen. Auf ihrer Grundlage kann man Kindern erklären, wo sie noch Lücken haben und woran sie noch arbeiten müssen.

Das Gespräch moderierte Kersten Knipp.

Dr. Ilka Hoffmann ist Lehrerin und Mitglied des Geschäftsführenden Vorstands der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).

Heinz-Peter Meidinger ist Oberstudiendirektor und Präsident des Deutschen Lehrerverbandes.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika