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Gesellschaft

Sprach-Erklärer und Welt-Intellektueller

Sabine Peschel
7. Dezember 2018

Noam Chomsky wirkt unermüdlich. Er hat die Sprachwissenschaft revolutioniert und als Linksintellektueller stets ungerechte Verhältnisse angeprangert. Der amerikanische Kapitalismuskritiker wird 90 Jahre alt.

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USA Noam Chomsky | 2014
Bild: picture-alliance/dpa/U. Deck

Seine Themen seien diejenigen, die auf die Titelblätter der Medien gehörten, aber nie dort zu finden seien, sagte Noam Chomsky vor fünf Jahren auf dem Global Media Forum der Deutschen Welle: die Kritik an Klimazerstörung, Neoliberalismus, Globalisierung. Auch in seinem 90. Lebensjahr kämpfte der US-amerikanische Intellektuelle weiter dafür, dass sich das ändert. Wenn er es an diesem Freitag, dem 7. Dezember, vollendet, kann Chomsky auf gleich drei Rollen blicken, in denen er die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart maßgeblich geprägt hat: als Sprachwissenschaftler, Philosoph und linker Politaktivist.

Avram Noam Chomsky kam 1928 in Philadelphia zur Welt. Seine Eltern waren jüdische Einwanderer, der Vater stammte aus der Ukraine und war in die Vereinigten Staaten geflohen. Die Mutter kam aus Weißrussland. Die Familie lebte in einer Art jüdischem Ghetto, engagierte sich für einen linken Zionismus. Noam schrieb schon als Zehnjähriger einen ersten Artikel über die Bedrohung durch den Faschismus und begann sich als Teenager mit anarchistischer Politik zu identifizieren.

Zitat-Tafel Top Speaker GMF 2013 Noam Chomsky
Noam Chomsky beim Global Media Forum 2013

Erkenntnisse zu den Grundstrukturen von Sprache

Er studierte Sprachwissenschaft, Mathematik und Philosophie, machte seinen Master 1951 im Fach Linguistik. Die Hauptthesen seiner Promotionsarbeit "Transformational Analysis" gingen später in ein Buch ein, das die Sprachwissenschaft revolutionieren sollte: Seine bahnbrechende Monographie "Syntactic Structures" erschien 1957 (deutsch 1973 als "Strukturen der Syntax").

Schon mit diesem Buch hatte Chomsky sein eigenes wissenschaftliches Lebensthema definiert: die Wurzeln und Grenzen der menschlichen kognitiven Fähigkeiten. Seine Ausgangsfrage erscheint einfach: Wie kann ein Kind innerhalb so kurzer Zeit sprechen lernen, nach wenigen Jahren in seiner Muttersprache grammatisch korrekte Sätze bilden, vielleicht sogar noch in einer weiteren Sprache? In seinen Forschungen kam er zu der Erkenntnis, dass der Spracherwerb eine angeborene Kompetenz ist.

Nicht das Erlernen durch Nachahmung dessen, was ein Kind in seiner Umgebung hört, verwandelt es in ein sprechendes Wesen. Dem menschlichen Gehirn, so seine zentrale These, sei eine Struktur genetisch eingeprägt, die es ihm ermöglicht, die Dinge der Welt wahrzunehmen, über sie nachzudenken – und mit einer endlichen Zahl von Regeln eine unendliche Zahl von Sätzen zu bilden.

UK Noam Chomsky erhält Doktortitel von Queen Mom | 1967
1967 verlieh Queen Elizabeth ("Queen Mum") Chomsky die EhrendoktorwürdeBild: imago/United Archives International

Chomskys revolutionäre Universalgrammatik

Seine von mathematischem Denken geleitete Lehre, dass die Grundstrukturen aller Sprachen gleich seien und der menschliche Sprachgebrauch komplexen syntaktischen und logischen Regeln folge – seine "Universalgrammatik" – blieb in ihrer Wirkung nicht auf die Linguistik beschränkt. Sie war auch eine Stellungnahme innerhalb eines philosophischen Streits, der bis in die Zeit der beginnenden Aufklärung zurückging. Schon im frühen 17. Jahrhundert hatte René Descartes die Auffassung vertreten, dass die Fähigkeit, in Begriffen zu denken, angeboren sei. Chomsky transformierte diesen "cartesianischen Rationalismus" ins 20. Jahrhundert.

Unwidersprochen blieb seine Theorie nicht – Kommunikationswissenschaftler des 21. Jahrhunderts akzeptieren beispielsweise seine grundlegende Unterscheidung zwischen Mensch und Tier nicht länger, da auch Tieren inzwischen kognitive Fähigkeiten zugestanden werden.

1961 wurde Chomsky ordentlicher Professor an der Eliteuniversität Massachusetts Institute of Technology in Cambridge in Massachusetts. Dem MIT blieb er über seine Emeritierung hinaus als Sprachwissenschaftler verbunden, daneben nahm er seit den Sechzigerjahren Gastdozenturen in der ganzen Welt wahr. Er hat mehr als 100 Bücher verfasst, wurde mit Dutzenden Preisen, Mitgliedschaften und Ehrendoktorwürden geehrt. Seit 2017 lehrt er an der eher bescheidenen, doch sprachwissenschaftlich renommierten University of Arizona in Tucson.

Kuba Noam Chomsky und Fidel Castro | 2003
Chomsky war immer neugierig, auch auf den kubanischen Präsidenten Fidel Castro 2003 in HavannaBild: picture-alliance/dpa/A. Ernesto

Linke Identifikationsfigur der Weltöffentlichkeit

Doch seine sprachphilosophischen Leistungen sind in der Wahrnehmung der Weltöffentlichkeit gegenüber seinem linkspolitischen Aktivismus immer mehr in den Hintergrund getreten. Seit den 1960er Jahren, als er gegen den Vietnam-Krieg protestierte, ist er in den USA so etwas wie das linke Gewissen einer Gegenöffentlichkeit. Weltweit wurde er bekannt als unermüdlicher Kritiker von US-Regierungen, von Globalisierung und Kapitalismus.

"Für eine privilegierte Minderheit hält die westliche Demokratie die Muße, die Einrichtungen und die Ausbildung bereit, die es ihr erlauben, die Wahrheit zu suchen, die sich unter dem Schleier von Verzerrung und Verdrehung, Ideologie und Klasseninteresse verbirgt. Die Intellektuellen haben die Verantwortung, die Wahrheit zu sagen und Lügen aufzudecken."

Chomskys Zitat aus dem Jahre 1966 behielt für ihn selbst jahrzehntelang Geltung und entspricht seinem Anspruch auch heute noch. Nach dem 11. September 2001, als er die Anschläge zwar verurteilte, sie aber in seinem Buch "9 - 11" zur logischen Konsequenz des amerikanischen Imperialismus und zur unvermeidlichen Antwort auf Ausbeutung und Unterdrückung der Dritten Welt erklärte, wurde er zur Identifikationsfigur der globalen Linken. Seine Kritik an der US-amerikanischen Außen- und Wirtschaftspolitik hat ihn zum Übervater der Occupy-Bewegung gemacht. Auch gegenüber Israel und seiner Siedlungspolitik, vor allem der Abriegelung des Gaza-Streifens,  äußert er sich immer wieder kritisch. Wie viele jüdische amerikanische Intellektuelle unterstützt Chomsky den BDS, den organisierten Boykottaufruf gegen Israel.

UK Noam Chomsky und Julian Assange | 2014
2014 unterstützte Chomsky Julian Assange und zeigte sich mit ihm auf dem Balkon der Botschaft Ecuadors in LondonBild: picture-alliance/empics/Yui Mok

Der Kampf geht weiter!

Chomskys letztes Buch "Global Discontents" (Globale Unzufriedenheit, Übers. d. Red.) vereint Unterhaltungen, die er in den Jahren 2013 bis 2016 mit seinem langjährigen Gesprächspartner, dem Radioreporter und Schriftsteller David Barsamian geführt hat. Darin plädiert Chomsky für radikale Veränderungen eines Systems, das den Zukunftsaufgaben nicht gewachsen sei. 2018 befasst er sich detailliert mit der - seiner Meinung nach - durch Präsident Trumps Politik erhöhten Gefahr eines Atomkriegs. "Es ist zwei vor Zwölf", so sein Fazit.

Auch in seinem  jüngsten, auf Deutsch publizierten Buch "Kampf oder Untergang!" warnt der ehemalige MIT-Professor wiederholt, dass sich die Menschheit in der bedrohlichsten Phase ihrer Geschichte befinde. Zuversichtlich bleibt er trotzdem, denn es gebe nur zwei Wahlmöglichkeiten: "Wir können pessimistisch sein und aufgeben, damit die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass das Schlimmste eintreffen wird. Oder wir können optimistisch sein und alle sich bietenden Gelegenheiten ergreifen, um dazu beizutragen, dass die Welt ein besserer Ort wird." Seine Wahl hat Chomsky getroffen.