Beethovenfest: "Raum für die stillen Gefühle"
5. September 2017Deutsche Welle: Nach "Veränderungen" und "Revolutionen" - den beiden extrovertierten Themen der letzten beiden Beethovenfeste - kommt nun etwas Verinnerlichtes. Es geht um Liebe, ferne Liebe, unerfüllte Liebe, Sehnsucht. Ist das eine Art Ruhe vor dem Sturm? Denn das Beethoven-Jubiläumsjahr 2020 ist ja schon in Sichtweite.
Nike Wagner: Eine gewisse Verinnerlichung bedeutet dieses Motto durchaus. Vielleicht ein Ritardando, ein In-sich-Hineinhören. Man kann nicht immer auf dem "lärmigen" Level sein, auch wenn dieser bei Beethoven leicht ins Werk zu setzen ist. Es gibt auch den anderen, den lyrischen Beethoven, den Beethoven, der über die "innigsten Empfindungen" Bescheid weiß. Ausgangspunkt für unser Festivalmotto war Beethovens Liederzyklus "An die ferne Geliebte" von 1816 und sein Brief an die "unsterbliche Geliebte" ein paar Jahre zuvor. Diese Begriffe gehören seither zu Beethoven. In jedem Fall öffnet das Thema einen - vor allem musikalisch - sehr ergiebigen Raum für Geschichten von der Liebe im Allgemeinen.
Beethoven hatte in seinem Leben nichts, was wir heute als "gelungene Beziehung" bezeichnen würden; Liebschaften vielleicht; aber die große Liebe blieb ihm unerreichbar. Es klingt wie ein Klischee, aber: Musste er deshalb alles in seiner Kunst verarbeiten und veredeln?
Da kann man lange spekulieren... Aber dass ein unerfülltes Liebesleben die Voraussetzung für ein so gewaltiges Werk sein könnte, scheint mir zu kurz gegriffen. Liebes- und Existenzkrisen gehören oft zusammen, und bei einem Künstler kommen noch die Schaffensbedingungen dazu. Aber wie sich Liebesqual in künstlerische Kreativität verwandelt, bleibt ein Geheimnis. So einfach kompensatorisch ist das ja nicht. Die "ferne Geliebte" kann auch blockieren, weil sie so fern ist, und nicht jeder, der unglücklich verliebt ist, schreibt deshalb schon große Sinfonien.
Vielleicht überrascht heutzutage ein Motto wie die "ferne Geliebte". Wir scheinen ja in Politik und Medienlärm zu versinken. Umso mehr, denke ich, müssen wir das Private schützen und zu unseren primären Liebesbedürfnissen und all den Gefühlen stehen, die in der Jugend so heiß waren. Man spricht in den Kulturwissenschaften inzwischen von einer "Rückkehr der Gefühle" - zumindest wäre es schön, wenn damit auch die "stilleren" Künste wieder in den Blick kämen. Die Liedkunst gehört dazu.
Das Lied und der Liederzyklus "An die ferne Geliebte" ist sozusagen der Ausgangspunkt Ihrer Programmüberlegungen in dieser Saison. Wohin führt das Programm dann weiter?
Beethoven hat mit der "fernen Geliebten" erstmals eine Reihe von Versen zu einem "Zyklus" geformt. Diese Form hat dann Schule gemacht: am schönsten bei Schubert, Schumann und Hugo Wolf. Wir hören Schuberts "Schöne Müllerin", wir hören Wolfs "Italienisches Liederbuch", wir hören alte Madrigale und Neukompositionen, Brahms' "Liebeslieder-Walzer" - aber auch Orchesterlieder. Es beginnt mit Beethovens "ferne Geliebte" in Orchesterfassung, aber dann folgen die schmelzenden Vokalklänge der französischen Romantik - Berlioz "Nuits d´été" und seine hochtheatralisch sterbende "Kleopatra" und von Ernest Chausson das sinfonische Gedicht über "l'amour et la mer..." In jedem großen Orchesterkonzert erscheinen Liebespaare - mal sind das Orpheus und Eurydike, mal Romeo und Julia - oder eine Prostituierte und ihr Mandarin.
Im Radio weiß man aufgrund der Hörerforschung, dass die geschulte Stimme beim großen Hörfunkpublikum nicht ankommt. Ist das bei einem Publikum, das im Konzertsaal sitzt, anders?
Vox humana verfehlt ihre Wirkung nie! Ein Liederabend oder Orchesterlieder live sind eben kein Hörfunk. Hier kommen tausend andere Parameter hinzu: das Charisma des Sängers oder der Sängerin, das ganz andere "Mitgehen" des Publikums beim Wort. Es werden ja richtige Geschichten erzählt, Miniatur-Geschichten - unter die Haut gebracht durch Musik.
Zu den Dimensionen des Festivals: Es sind jetzt einige Veranstaltungen weniger als früher. War das die unausweichliche Antwort auf die logistischen Grenzen? Denn die Beethovenhalle wird saniert, da muss man im World Conference Center spielen, wo es weniger Sitzplätze gibt. Oder war das Festival bisher für Bonn einfach zu groß?
Seit 2014 gibt es den Wunsch vieler Gremien und vieler Bonner Musikfreunde, das Beethovenfest etwas zu verkürzen. Sie sagen: Es geht uns die Puste aus, das Festival dauert zu lange! Das ist kurios, aber vielleicht auch verständlich, gemessen an der Größe der Stadt. Wir spielen ab 2017 nur mehr drei Wochen lang. Was freilich nicht heißt, dass das Programm nicht dicht mit Veranstaltungen gespickt ist!
Welche Interpreten dürfen wir in diesem Jahrgang auf keinen Fall verpassen, welchen Tipp haben Sie für uns?
Die Lied-Interpreten sind alle großartig. Zu Beginn tritt Matthias Goerne auf - und beim Abschlusskonzert hören wir Vesselina Kasarova mit den Bamberger Sinfonikern. Mit Ronald Brautigam kommt ein Meister des Hammerklaviers, der Pianist Igor Levit genießt Kultstatus und den Cellisten Miklos Perenyi und die Geigerin Isabelle Faust sollte auch keiner versäumen. So verschiedene Dirigenten wie Valery Gergiev und Ingo Metzmacher sind unentbehrlich für ein Festival, ebenso ein großes Orchester wie das BBC Symphony oder die interessanten kleineren mit Originalklang, etwa Les Musiciens du Louvre. Das lebendigste Konzert ist immer das "Campus"-Konzert, diesmal tut sich das Bundesjugendorchester mit ukrainischen Jungmusikern zusammen. Und nicht nur für Kenner gibt es unser Streichquartett-Wochenende: erfolgreiche junge Quartette kombinieren späten Beethoven mit früher Moderne, darunter das Schumann-Quartett und das Diotima-Quartett. Zwei Konzerte werden sich in besonderer Weise mit Beethoven auseinandersetzen. Vladimir Tarnopolsky hat zu Beethovens 4. Klavierkonzert ein neues Werk geschrieben, und der Beethoven-Spezialist Jan Caeyers rekonstruiert ein "all-Beethoven"-Konzert des Jahres 1803 - mit dem selten gespielten Oratorium "Christus am Ölberg".
Welche Ausprägungen gibt es bei den Tanzveranstaltungen in diesem Jahr?
Das Ballett der Oper in Lyon kommt mit Beethovens "Großer Fuge" - von drei der berühmtesten Choreographinnen unserer Zeit an einem dreiteiligen Abend präsentiert. Anne Teresa De Keersmaeker, Maguy Marin und Lucinda Childs zeigen ihre ganz persönlichen Versionen dieses Wahnsinnsstücks. Eine Compagnie aus der Normandie bringt sechs Tänzer und sechs Schlagzeuger zusammen: Die "Percussions de Strasbourg" spielen "Pléiades" von Iannis Xenakis. Und die ausdrucksstarke heimische CoCoonDance Company wagt sich an Beethovens "Geistertrio". Von allen drei Abenden versprechen wir uns viel: man tanzt wieder auf "komponierte" Musik!
Das Gespräch führte Rick Fulker.
Nike Wagner ist seit dem 1. Januar 2014 Intendantin des Bonner Beethovenfestes. 2017 steht es unter dem Motto: "Die ferne Geliebte". Es bezieht sich auf den von Beethoven stammenden ersten Liederzyklus der Musikgeschichte. Nike Wagner, Urenkelin des Komponisten Richard Wagner und Ur-Urenkelin von Franz Liszt, sorgt damit für ein assoziationsreiches Programm. Das Beethovenfest Bonn 2017 findet vom 8. September bis 1. Oktober statt.