Sozialstunden statt Gefängnis in Nigeria
8. April 2019Oluwatosin Olaoye hält kurz Rücksprache mit seinen Kollegen. In dem engen Büro, das im Zentrum der Millionenstadt Ibadan im Südwesten Nigerias liegt, summt der Ventilator. Auf dem Schreibtisch liegen Registrierbücher und Formulare, die Olaoye und die drei Kollegen regelmäßig ausfüllen. Ihre Stellen sind im Zuge einer Justizreform im Bundesstaat Oyo geschaffen worden. Seit 2017 können erstmals Straftäter, die geringe Vergehen wie Lebensmitteldiebstahl begangen haben, ihre Strafe durch Sozialstunden ableisten - den sogenannten "Community Service". "Ich bin der Field Officer, der die Straffälligen überwacht. Ich gehe mit ihnen zum Einsatzort und beaufsichtige ihre Arbeit", erklärt Oluwatosin Olaoye.
Alternative zum Gefängnisaufenthalt
Kurz darauf begrüßt er einen Mann im schwarzen Hemd, der vor dem Büro steht. Seinen Namen nennt dieser nicht. Stattdessen zieht er ein hellblaues Leibchen über, auf dem "Community Service" gedruckt steht. Er hat erst vor wenigen Tagen mit dem dreimonatigen Dienst angefangen und schaut ein bisschen mürrisch, da er nach eigenen Angaben unschuldig verurteilt wurde. "Eine meiner Verkäuferinnen hat Geld gestohlen. Als ich das bemerkte, ist sie jedoch zur Polizei gegangen und hat mich angezeigt", erzählt er. "Bevor mir klar wurde, was passiert, haben sie mich vor Gericht gestellt. Dort behauptete die Verkäuferin, sie hätte mir Geld geliehen." Nun muss er in den kommenden Wochen im Gericht die Gänge fegen und Gras schneiden. Trotzdem gibt er zu: Die Sozialstunden seien eine Alternative zu einem Gefängnisaufenthalt.
In Nigeria sitzen mehr als 72.000 Menschen im Gefängnis. Wie das Agodi-Gefängnis im Zentrum von Ibadan sind sie meistens überfüllt. Auf einer großen Tafel im Eingangsbereich steht, dass aktuell 1189 Personen inhaftiert sind. Dabei ist die Haftanstalt nur fpr 290 Gefangene ausgelegt. Auch das Budget wurde nie angepasst. Das war der Hauptgrund, warum einige Kirchen und Sozialorganisationen jahrelang für eine Alternative zu Gefängnisstrafen gekämpft haben. Die Haftanstalten seien viel zu voll, sagt Tolulope Fayemi vom katholischen Caritas-Komitee für Gerechtigkeit, Entwicklung und Frieden (JDPC).
Vom Justizsystem "vergessen"
Es gab aber noch einen weiteren Grund: "Meist sind die Inhaftierten länger im Gefängnis als sie eigentlich müssten. Sie warten manchmal sechs Monate, manchmal sogar ein Jahr auf ihren Prozess und nichts geschieht. Wenn es eine Verhandlung gibt, bekommen sie am Ende eine Freiheitsstrafe", erklärt Tolulope Fayemi. Von den Insaßen des Agodi-Gefängnisses sind zurzeit nur 159 verurteilt worden. Es würde immer wieder passieren, dass Menschen schlicht vom Justizsystem "vergessen" würden, sagt Fayemi. Besonders betroffen seien jene ohne Geld und Kontakte.
In Oyo, neben Lagos der einzige Bundesstaat mit "Community Service", haben zwischen Juli 2017 bis Januar 2019 insgesamt 124 Personen Sozialstunden abgeleistet. Richterin Olabisi Ogunkanmi zieht ein positives Fazit: "Es gibt einfache Verbrechen, die nicht mit Freiheitsentzug oder Geldbußen bestraft werden müssen. Man muss den Menschen helfen, sich zu bessern." Das ist vor allem in Gefängnissen kaum möglich. Justizmitarbeiter und Caritas-Personal stimmen stattdessen überein, dass dort viele Menschen überhaupt erst mit Straftätern in Kontakt kommen und so Teil krimineller Netzwerke werden.
Weniger Ausgrenzung
Davor hatte auch der Familienvater Sorge, der gerade das Gerichtsgebäude in Ibadan putzt. Er hat längst mit seiner Arbeit angefangen und wischt in den Ecken Spinnweben weg. Zwischendurch hält er für einen Moment inne und sagt: "Natürlich ist meine Frau nicht glücklich über die Situation. Aber ich sehe meine Familie immerhin jeden Abend und kann nach Hause gehen." Das beugt außerdem neugierigen Fragen aus der Nachbarschaft und und einer möglichen Ausgrenzung vor. Damit der Verurteilte jedoch nicht wegläuft, sei ein Bürge notwendig, so Tolulope Fayemi.
Bisher sind die Einsatzorte noch meist auf Gerichtsgelände beschränkt. "Menschen stellen sich nicht so einfach um", erklärt Richterin Olabisi Ogunkanmi, "wenn sie aber sehen, dass es funktioniert, dann akzeptieren sie es auch". Ist das System etabliert, kann der Dienst ausgeweitet werden. Dann könnten Kommunen im größeren Maße davon profitieren.
In manchen Fällen sind es jedoch die Verurteilten selbst, die vom Einsatz am meisten profitieren. "Wir hatten jemanden, der straffällig geworden ist. Der Junge hat sich jedoch gut verhalten und war sehr fleißig. Er wusste, wie man Gras schneidet", erinnert sich Oluwatosin Olaoye. Er und seine Kollegen rieten ihm, das künftig als Dienstleistung anzubieten. "Wenn er einen solchen Job gut erledigt, kann er damit genügend Geld verdienen und sich selbst versorgen." Denn genau das sei eine häufige Ursache, weshalb Menschen im Gefängnis landen, sagt Tolulope Fayemi: "Armut ist ein großes Problem in Nigeria. Manche Menschen stehlen eine Tüte Milch, Bananen und Reis. Die Menge ist gerade einmal so groß, dass nach dem Kochen eine Person davon satt wird. Natürlich ist der Grund Hunger."