Nicaragua: Ortega ignoriert Corona
21. Mai 2020In dem Land, in dem der Präsident für fünf Wochen mitten in der Corona-Krise abtaucht und vollkommen von der Bildfläche verschwindet, in dem es trotz Corona keine Beschränkungen gibt und Partys, Fußballspiele und sogar Boxkämpfe erlaubt sind und in dem die schnellen Bestattungen vom Krankenhaus direkt auf den Friedhof den makabren Namen "Entierros express" tragen, gibt es einen zarten Hoffnungsschimmer: Die Regierung Nicaraguas von Daniel Ortega hat zum ersten Mal zugegeben, dass die Zahl der COVID-19-Neuinfektionen ansteigt.
In der vergangenen Woche seien die bestätigten und wahrscheinlichen Ansteckungen um das Zehnfache von 25 auf 254 gestiegen, teilte Gesundheitsministerin Martha Reyes am Dienstag mit. Offizielle Zahlen, die aufschrecken, die aber laut vielen Experten das wahre Ausmaß der Pandemie in Nicaragua nur notdürftig verschleiern. Und auch so gar nicht zu den verstörenden Bildern des Krankenhauses "Hospital Alemán" in der Hauptstadt Managua passen, wo die Leichen aus Platzgründen einfach auf den Fluren abgelegt werden.
Der Sonderweg Nicaraguas
Die letzten zwei Monate haben gezeigt, dass es zwei Strategien gibt, die Corona-Krise zu bekämpfen: mit harten Lockdowns und rigiden Ausgangssperren wie in China, Italien oder Spanien oder mit Kontaktverboten wie in Deutschland. Nicaragua versucht es, ähnlich wie Brasilien und Weißrussland, mit einem dritten Weg: das Virus kleinreden und einfach aussitzen.
Wer begreifen will, wie es sein kann, dass ein Land quasi ohne Fallschirm in den Abgrund springt, muss bei Juan Sebastián Chamorro anrufen. Er ist Leiter der "Alianza Cívica", einem Zivilbündnis, das seit zwei Jahren verzweifelt einen Dialog mit der Regierung sucht: "Die Strategie von Daniel Ortega ist es, einfach nichts zu tun. Und so einen Normalzustand vorzutäuschen, um ja nicht die Wirtschaft zu gefährden", erklärt Chamorro.
Ortegas politisches Ende bei den Wahlen in 2021?
Vor allem das nach Haiti zweitärmste Land Mittelamerikas trifft die Corona-Krise mit voller Wucht. Das Virus könnte paradoxerweise am Ende das erledigen, was die monatelangen Proteste in Nicaragua mit Hunderten Toten nicht vollbracht haben: das politische Ende des seit 2006 amtierenden Präsidenten Daniel Ortega.
Chamorro, der die Regierung mit einem Sultanat vergleicht, das alle drei Staatsgewalten und die Medien kontrolliert, sagt: "Viele Menschen sind, gerade jetzt in Zeiten von Corona, einfach müde. Wenn es hier faire und transparente Wahlen geben würde, würde Ortega nicht mal 20 Prozent der Stimmen bekommen."
Sozialistische Giftpfeile gegen die USA
Doch wie sein venezolanischer Amtskollege Nicolás Maduro war Daniel Ortega schon so oft totgesagt - und hat trotzdem (wie auch Maduro) in der Bevölkerung noch eine treue Basis. Menschen, die glauben, wenn Ortega sagt, dass die vielen Toten in den USA "ein Zeichen Gottes" seien. Und dass in Nicaragua das öffentliche Leben weitergehen könne, weil das Gesundheitswesen exzellent sei - im Gegensatz zu den USA.
Die nicaraguanische Menschenrechtsorganisation ANPDH hat jetzt die Weltgesundheitsorganisation WHO aufgefordert, einzuschreiten. Ortega handele verantwortungslos, weil er keinerlei Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus einleite. Das, was gerade In Nicaragua passiere, sei ein "viraler Genozid".