Nicaragua: Ortega greift nach der Diktatur
30. Juni 2021Es war schon später Abend, als es bei Miguel Mora gegen die Wohnungstür bollerte. Seine Frau brachte gerade den gemeinsamen Sohn zu Bett. Die Polizisten hätten so heftig gegen die Tür getreten, dass Mora sie kaum öffnen konnte, obwohl er es versuchte, berichtete seine Frau später. Letztlich nahmen sie Mora mit und sperrten ihn ein.
Mora ist dem Regime von Daniel Ortega doppelt ein Dorn im Auge: Er betreibt das regierungskritische Nachrichtenportal "100% Noticias". Wegen seiner Arbeit wurde er 2018 schon einmal festgenommen. Inzwischen ist er zudem auch Kandidat für die Präsidentschaftswahl im November. Doch er ist nicht das einzige Ziel der politischen Repressionen in Nicaragua.
Freie Präsidentschaftswahl ausgeschlossen
Das Ortega-Regime geht ein halbes Jahr vor der Präsidentschaftswahl konsequent gegen politische Gegner vor: Rund 20 Oppositionelle sind in dem mittelamerikanischen Land im Laufe des Juni eingesperrt oder unter Hausarrest gestellt worden, darunter fünf Präsidentschaftskandidaten. Von Verhaftungen will die nicaraguanische Juristin Asunción Moreno nicht sprechen: "Sie wurden entführt, denn sie wurden festgenommen, ohne Rücksicht auf die verfassungsmäßigen Formalitäten."
Die rechtliche Basis für die Verhaftungswelle habe Ortega im Lauf der letzten Monate mit einer Serie neuer Gesetze gelegt: "Sie alle zielen darauf ab, die Ausübung ziviler und politischer Rechte zu verhindern", sagt Moreno.
Dass es der Regierung darum geht, bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen kein Risiko einzugehen, bezweifelt kaum jemand: "Von freien Wahlen kann keine Rede mehr sein", schreibt Günther Maihold, Lateinamerikaexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), in einem Beitrag Mitte Juni.
Vom Revolutionär zum Autokraten
Daniel Ortega beeinflusst die Politik in Nicaragua seit den 1970er Jahren. Damals kämpfte er als Anführer der Guerilla-Gruppe "Sandinistischen Nationalbefreiungsfront" (FSLN) gegen die Diktatur des Somoza-Clans, die das Land seit den 1930er Jahren beherrschte und ausbeutete. 1979 besiegten Ortegas Sandinisten das Regime und er regierte das Land zunächst als Kopf einer Regierungsjunta, dann bis 1990 als demokratisch gewählter Präsident.
Nach Jahren in der Opposition, in der sich gemäßigte Sandinisten von der FSLN abspalteten, errang Ortega Ende 2006 in einer umstrittenen Wahl wieder das Präsidentenamt und begann umgehend damit, das Land und die Politik zu seinen Gunsten umzugestalten.
Bereits zwei Jahre später warnte Kevin Casas-Zamora, ein international anerkannter Politologe und ehemaliger Vizepräsident des Nachbarlandes Costa Rica, in einem Zeitungskommentar mit Blick auf den Diktator von Zimbabwe: "Lasst Nicaraguas Ortega nicht zu einem Mugabe werden". 2011 wurde Ortega - entgegen der Verfassung - zur Kandidatur für eine dritte Präsidentschaft zugelassen und gewählt. Mittlerweile steuert der Autokrat auf seine fünfte Amtszeit zu.
Beispielloser Sturm auf Oppositionelle
Unregelmäßigkeiten gab es laut Beobachtern bei jeder Wahl, in der Ortega wiedergewählt wurde. Auch dass Oppositionelle durch zwielichtige Gerichtsentscheide außer Gefecht gesetzt wurden, ist nicht neu. Aber die Konsequenz und Offenkundigkeit, mit der Ortega Gegner aus Politik, Medien und Zivilgesellschaft attackiert und beiseiteräumt, ist es: "Auf dem Weg zu den Präsidentschaftswahlen im nächsten November hat Ortega einen Sturm von Repressalien entfesselt, der beispiellos in Lateinamerika ist seit der Demokratisierung der Region", schreibt Casas-Zamora Ende Juni 2021 in einem weiteren Artikel. Nicht einmal in Venezuela habe es eine vergleichbare Verhaftungswelle gegeben.
Genau diese beiden Länder seien die einzigen weltweit, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten von einer funktionalen repräsentativen Demokratie zu einer voll ausgeprägten Diktatur entwickelt hätten. Das geht aus den Daten des Internationalen Instituts zur Förderung von Demokratie und demokratischer Teilhabe (International IDEA) in Stockholm, deren Generalsekretär Casas-Zamora seit 2019 ist, hervor.
Protest blutig niedergeschlagen
Mittlerweile beherrscht der Ortega-Clan viele Schlüsselpositionen: Seine Ehefrau Rosario Murillo ist Vizepräsidentin, mehrere ihrer acht Kinder besetzen einflussreiche Posten in Politik, Wirtschaft und Medien. Sohn Facundo ist seit 2010 mit der Tochter des nationalen Sicherheitschefs Francisco Díaz verheiratet. Das weckt Erinnerungen an den Somoza-Clan, den Ortegas Sandinisten einst niederrangen.
Wie einst die Somozas schrecken auch die Ortegas nicht vor brutaler Gewalt gegen die eigene Bevölkerung zurück, wenn es darum geht, ihre Macht zu verteidigen. So viel ist spätestens seit 2018 klar. Damals entzündete sich eine Protestwelle an einer Reform der Sozialgesetze. Ortega ruderte zurück, doch die Rücktrittsforderungenblieben - auch von ehemaligen Weggefährten wie dem Schriftsteller und Befreiungstheologen Ernesto Cardenal.
Staatliche Sicherheitskräfte und Ortegas Paramilitärsschlugen Demonstration um Demonstration blutig nieder und unterdrückte die Berichterstattung darüber. Der Tod des Journalisten Angel Gahona wurde zu einem Symbol der Unterdrückung. Während eines Livestreams von einer eskalierten Kundgebung wurde er vor laufender Kamera von Unbekannten erschossen.Nach einem Jahr zog die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) Bilanz und zählte 325 Tote.
Die Hoffnung liegt auf dem Ausland
Seitdem haben rund 90.000 Nicaraguaner Zuflucht im benachbarten Costa Rica gesucht. Einer von ihnen ist Enrique Sáenz, ehemaliger nicaraguanischer Abgeordneter und Ex-Präsident der Sandinistischen Erneuerungsbewegung, jener Partei also, die sich während der 1990er Jahre von Ortegas FSLN abspaltete. Sáenz vergleicht die Situation mit der Perus in den Jahren der Fujimori-Herrschaft. Auch damals habe die Regierung auf Druck von innen und außen reagiert. In den vorgezogenen freien Neuwahlen unterlag Fujimori, seither gilt Peru als eine der stabileren Demokratien in Lateinamerika: "Wir Nicaraguaner wollen nicht auf unser Wahlrecht verzichten, aber wir wollen es nicht unter Ortegas Bedingungen ausüben", sagte Sáenz der DW.
In Nicaragua aber steht eher die Opposition unter Druck als die Regierung. Und auch die internationalen Reaktionen sind bisher zurückhaltend. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hat die Regierung mehrfach gerügt und die Freilassung der "politischen Gefangenen" verlangt, die Mitgliedschaft Nicaraguas bisher aber nicht einmal suspendiert.
Die Europäische Union und die USA haben bereits während der Protestwelle 2018/2019 persönliche Sanktionen gegen Ortega und einige Mitglieder seine Machtclique erhoben, nun haben sie den sanktionierten Personenkreis ausgeweitet. Mehr, schreibt SWP-Experte Maihold, sei aus Washington allerdings nicht zu erwarten, weil die Regierung dort fürchtet, in Nicaragua eine weitere Migrationswelle auszulösen: "Notwendig ist daher eine Initiative des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell und der EU-Mitgliedstaaten auf höchster politischer Ebene", schreibt Maihold.