Neuer Blick auf "Der blaue Engel"
2. November 2012"Der blaue Engel" (1930) dürfte ohne Zweifel zu den Top Ten der deutschen Filme mit der größten Bekanntheit im Ausland gehören. Er war der Start für die Weltkarriere von Marlene Dietrich. Er katapultierte den aus Wien stammenden Regisseur Josef von Sternberg für ein paar Jahre in die erste Riege der Regiegötter in Hollywood. Und er war und ist noch heute ein herausragender künstlerisch gestalteter Film der frühen Tonfilmepoche.
Wenn "Der blaue Engel" nun also nach digitaler Bearbeitung "neu" auf DVD erscheint, dann ist das ein Ereignis. Noch dazu, wenn man auf der DVD-Edition neben der deutschen Fassung auch die englische vorfindet. Dabei handelt es sich nicht um die mit Synchronstimmen bearbeitete Originalfassung, sondern eine eigenständige damals parallel entstandene Version mit deutschen und englischen Dialogen. Während der Dreharbeiten in Babelsberg wurden die Sequenzen für beide Versionen damals in unmittelbarer zeitlicher Abfolge aufgenommen.
Klassiker der Filmgeschichte sind im Laufe der Zeit immer wieder neu betrachtet, bewertet und innerhalb des Kanons der Filmhistorie eingeordnet worden. Manche Filme haben dabei ihren Klassikerstatus irgendwann eingebüßt. Andere sind erst später hinzugekommen. Und einige haben seit ihrer Premiere nichts von ihrem Ruf und ihrer Bedeutung verloren. "Der blaue Engel" gehört zur letzten Kategorie. Aber natürlich hat sich auch bei diesem Film einiges verändert in der Art der Beurteilung.
Wie man Filme sieht und interpretieren kann, davon zeugen zwei längere Filmtrailer, die im Bonusmaterial der DVD enthalten sind. Einer stammt aus den 1930er Jahren, ein anderer aus den 60er Jahren. Auch so etwas kann neue Blicke auf Filme eröffnen. Ergiebiger noch als dieser Aspekt der Vermarktung des Films fällt der Blick auf das eigentliche Werk aus.
Kann man heute noch nachvollziehen, warum gerade dieser Film für Marlene Dietrich zum Ausgangspunkt ihrer Hollywoodkarriere wurde? War sie doch in "Der blaue Engel" noch weit entfernt vom Image des männerverschlingenden Vamps. Heute lässt sich die erotische Faszination der Dietrich in "Der blaue Engel" kaum noch nachvollziehen. Erst die später in Hollywood entstandenen Filme lassen diese Faszination heute noch erahnen. In "Der blaue Engel" ist die Dietrich, von wenigen Szenen abgesehen, doch eher ein recht pummeliges Tingel-Tangel-Girl, sympathisch und verspielt, aber auch ein wenig bieder und ehrpusselig. Auch die Dietrich selber war damals vom Erfolg des Films ziemlich überrascht, wie sie in einem (im Bonus-Material enthaltenen) späteren Interview zugab. Selbst an der Berliner Premiere nahm sie damals nicht teil - sie befand sich bereits auf dem Weg nach Amerika.
Und stimmen die sich hartnäckig haltenden Interpretationen, der im Film von Emil Jannings verkörperte Professor sei der Inbegriff des Spießers, der auf die schiefe Bahn gerät? Natürlich sehen wir zu Beginn zunächst einmal eine pedantische, verkniffene Lehrergestalt, die seine Schüler malträtiert. Aber ist es nicht so, dass der konsequente Austritt des Professors aus dem bürgerlichen Leben und die Heirat mit einer leichtlebigen Tänzerin aus schummrigem Milieu einer ungeheuren Tabuverletzung sämtlicher bürgerlicher Verhaltensnormen entspricht?
Es sind nicht zuletzt solche Fragestellungen, die sich beim "neuen" Blick auf den Film stellen. "Der blaue Engel" ist darüber hinaus sehenswert, weil er damals an der Nahtstelle gleich mehrerer ästhetischer Umbrüche entstand. Der Umgang des Regisseurs mit dem Ton war 1930 innovativ, "Der blaue Engel" war einer der Filme, die die Ära des Stummfilms beendete. Gleichzeitig ist er mit seinen Studiodekorationen noch ein Zeugnis des deutschen Expressionismus der 20er Jahren. Ebenso eröffnet er aber auch einen Vorausblick auf die große Zeit Hollywoods späterer Jahrzehnte. Josef von Sternberg und seine Kameramänner Günther Rittau und Hans Schneeberger (engl. Fassung) setzten nicht zuletzt in Sachen Licht und Ausleuchtung mit dem Klassiker "Der blaue Engel" Maßstäbe.
Aus all diesen Gründen wird die Wiederbegegnung mit Marlene Dietrich, Emil Jannings und den anderen Schauspielern, wie dem später von den Nazis im Konzentrationslager Auschwitz ermordeten wunderbaren Charakterdarsteller Kurt Gerron, zum Erlebnis.
Josef von Sternberg: Der blaue Engel, Deutschland 1930, 107 Minuten (engl. Fassung 104 Minuten), zahlreiche Extras, DVD-Anbieter: UNIVERSUM-Film.