Protest mit Kreativität und Ironie
17. Juli 2013Seit einem Monat demonstrieren Tausende Bulgaren gegen ein politisches System, das in ihren Augen von Oligarchen kontrolliert wird. Zum 31. Tag der Kundgebungen in Sofia und als Anspielung auf die Französische Revolution inszenierten die Protestierenden am 14. Juli das berühmte Bild von Eugène Delacroix "Die Freiheit führt das Volk". Eine Schauspielerin mit entblößter Brust und entsprechendem Kostüm sorgte für einprägsame Bilder. Es war nur einer unter vielen originellen Einfällen, die für die Proteste in Sofia typisch sind.
Der Kulturwissenschaftler Ivaylo Ditchev, der auch die Proteste in Istanbul erlebt hat, sieht viele Ähnlichkeiten zwischen Bulgarien und der Türkei. "Diejenigen, die auf die Straße gehen, gehören zu einer neuen Generation, die sich von den Politikern nicht repräsentiert fühlt. Es ist die Mitte der Gesellschaft, die sich darüber empört, dass die Machthaber die Demokratiewerte mit Füßen treten." Die Menschen in den türkischen Großstädten würden es einfach nicht akzeptieren, dass das Kopftuch allmählich zur Pflicht werde. Das gleiche gelte für die Einschränkung des Alkoholverkaufs oder das Kussverbot auf öffentlichen Plätzen, so Ditchev. "Deswegen auch die einfallsreichen Formen des Protests wie öffentliches Trinken und Küssen – als Verspottung der Islamisten."
Kreativität und universelle Botschaften
Einfallsreich sind auch die Parolen der Demonstranten in Sofia, meint Ditchev. Der bulgarische Premierminister Plamen Orescharski werde zum Beispiel mit "Oligarski" angesprochen und auf einem der Transparente konnte man lesen: "Es gibt ein Regierungskrankenhaus. Jetzt brauchen wir ein Regierungsirrenhaus." Auch die Journalistin und Menschenrechtlerin Emmy Barouh kann aus eigener Erfahrung die Proteste in der Türkei und in Bulgarien vergleichen. "Gemeinsam ist ihnen die Fantasie, die Kreativität der Proteste, auch der Gewaltverzicht und die Fähigkeit, Provokateure zu isolieren." Zudem seien sowohl in der Türkei, als auch in Bulgarien die Symbole, die Bildsprache der Demonstranten universell. "Die Generation Gezi in der Türkei und die Generation #DANSwithme in Bulgarien sind wie Zwillinge. Die jungen Menschen tanzen im Regen, sie singen, sie umarmen sich, sie lachen, sie träumen. Ihre Energie ist mächtig, modern und überwältigend", sagt die Journalistin.
Soziale Medien als Instrument der Demonstranten
Der Twitter-Tag #DANSwithme ist eine Anspielung auf den mächtigen bulgarischen Sicherheitsdienst DANS. Inspiriert wurde der Tag durch die Ernennung von Delyan Peewski, ein Medienmogul mit angeblichen Kontakten zur Schattenwirtschaft, zum Chef der Behörde. Auf Druck der Straße bot er nach nur einem Tag im Amt seinen Rücktritt an. Auch weitere, an die Kurzmeldungen von Twitter angelehnte Tags sind in Sofia sehr beliebt. Zum Beispiel #Ignoresiderov – ein Aufruf, den Vorsitzenden der Ultranationalisten Volen Siderov, zu ignorieren, denn die entscheidende Stimme zur Bildung der Regierung Orescharski kam von Siderovs populistischer und EU-feindlicher Partei "Ataka".
Die sozialen Medien wie Twitter und Facebook - sowohl in Bulgarien, als auch in der Türkei - sind das Hauptinstrument der Demonstranten. Es ist eine völlig neue Protestkultur, stellt der Journalist Ivan Kulekov fest, der vor kurzem eine TV-Dokumentation über die Proteste in Istanbul gedreht hat. "Die Demonstranten sind moderne junge Leute, die sich in Facebook organisieren und per Tweets kommunizieren. Sie verspotten die Regierenden, die in ihren Augen rückständig und ungebildet aussehen, auf eine sehr subtile Art." Witzige Karikaturen, Anonymus-Masken und Occupy-Aufrufe - die Demonstranten in der Türkei und in Bulgarien empfinden sich als Teil der neuen jugendlichen Protestkultur, die keine Staatsgrenzen kennt.
Mehr Transparenz und Bürgerbeteiligung
Kulekov erzählt von einem Protestbaum mit gelben Klebe-Zettelchen in Istanbul, wo unter anderem die Botschaft einer Schulklasse zu lesen war: "Wir haben die Schule geschwänzt, um zu protestieren." Und in Bulgarien trug ein Vorschulkind den selbstgebastelten Poster mit dem Text: "Ich wollte eigentlich spielen gehen."
Modern sind nicht nur die Ausdrucksformen, modern sind vor allem die Schwerpunkte der Demonstranten, meint Emmy Barouh. "In der Türkei und in Bulgarien haben sie klar definierte Ziele der Öko-Bewegung. Sie verlangen auch nach einem neuen Regierungsstil, mit mehr Dialog und Bürgerrechten, mit mehr Transparenz und Beteiligung der Zivilgesellschaft." Die Proteste gehen weiter - auf den Straßen von Istanbul und Sofia. Die Protestierenden in Sofia läuten jeden Tag mit einem Ritual ein: Kaffee trinken vor dem Parlament.