Neue Proteste nach Massenpanik in Äthiopien
5. Oktober 2016In Äthiopien spitzt sich die Situation nach der tragischen Massenpanik am Wochenende zu. Oromo-Aktivisten riefen nach dem Tod vieler Menschen in der Stadt Bishoftu zu "fünf Tagen des Zorns" auf - trotz der von der Regierung ausgerufenen Staatstrauer. Während die Fahnen auf Halbmast wehten, zogen in den westlichen und östlichen Randbezirken der Hauptstadt Addis Abeba Demonstranten mit ihren Plakaten durch die Straßen und kritisierten lautstark die Regierung.
Mehrere zehntausend Menschen, die dem Volk der Oromo angehören, hatten sich am vergangenen Sonntag am Ufer des Sees Harsadi zum jährlichen Dankfest "Irreecha" versammelt. Der See gilt den Oromo als heilig. Als einige Teilnehmer als Symbol des Protests gegen die Regierung ihre Handgelenke in Kopfhöhe überkreuzten und Steine und Flaschen in Richtung der Sicherheitskräfte warfen, setzte die Polizei Tränengas ein. Die Tränengaswolke löste eine Massenpanik aus, dutzende Menschen stürzten übereinander in einen Graben. Die Regierung spricht von 52 Toten, aber Menschenrechtsorganisationen gehen von mehreren Hundert Toten aus.
Kreislauf der Gewalt
"Wie gewohnt hören wir nur Lügen", erbost sich Geberu Geberemariam, Vize-Chef der Oppositionspartei "Äthiopiens Demokratisches Einheitsforum". "Die kleine Wahrheit, die wir von der Regierung gehört haben, war, dass die Menschen nach einer Massenpanik in ein nahegelegenes Tal gerutscht und viele gestorben sind. Die Schuld dafür trägt aber die Regierung, weil die Soldaten und Polizisten in die Luft geschossen und Tränengas benutzt haben."
Der äthiopische Aktivist Geresu Tufa beobachtet die Situation in seiner Heimat aus dem niederländischen Exil. "Das ist ein Schock für das Land", sagt er im DW-Interview. Der Konflikt drohe sich auszuweiten, denn der Staat gehe nach wie vor gewaltsam gegen Kritiker vor. Tufa fordert, dass die Regierung des ostafrikanischen Landes das Angebot der Vereinten Nationen (UN) annimmt, als unabhängige Organisation die Vorfälle zu untersuchen. Alle politischen Parteien sollten sich an einen Tisch setzen. "Aber ich glaube nicht, dass das Regime dazu bereit ist." Die Regierungsgewalt erzeuge neue Gewalt, das sei ein furchtbarer Kreislauf.
Blogger festgenommen
Für noch mehr Wut bei den Demonstranten sorgte die Nachricht, dass die Polizei den bekannten Blogger Seyoum Teshome am Montag in seinem Haus festgenommen hat. Dass regimekritische Blogger verhaftet werden sei nicht neu, so Aktivist Tufa. Aber es nähre jetzt den gewaltsamen Konflikt, der in der Region zu eskalieren drohe. Äthiopien gilt als repressiver Staat, der versucht, kritische Journalisten durch Festnahmen und anschließend hohe Haftstrafen mundtot zu machen. Das Internationale Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) fordert die unverzügliche Freilassung von Teshome.
Wenn die Regierung den Dialog mit der Bevölkerung suchen würde, dann wäre das ein Zeichen von Stabilität in Äthiopien, sagt Merga Yonas Bula, DW-Journalist und selbst Oromo. Bislang gebe es aber immer wieder Berichte, dass Sicherheitskräfte mit scharfer Munition auf Demonstranten schössen. Die Gewalt verschlimmere die Lage und werde die Region weiter schwächen.
Angst vor Vertreibung
Die Proteste hatten im vergangenen November begonnen - vor allem in den Regionen Oromo und Amhara. Sie entzündeten sich an Plänen der Regierung, die Hauptstadt Addis Abeba in das Gebiet der Oromo, der größten Bevölkerungsgruppe Äthiopiens, auszubreiten.
Nach dem "Masterplan" für Addis Abeba soll die Stadt mit einigen Oromo-Gebieten im Umland "verbunden" werden. Kritiker glauben nicht daran, dass dieser Plan - wie von der Regierung behauptet - mehr Infrastruktur und Entwicklung bringt. Sie sehen die Souveränität der Oromo-Gemeinden bedroht und fürchten, dass die Einheimischen von ihrem Land vertrieben werden.
Hilfe durch mehr Druck
Wegen seiner guten wirtschaftlichen Entwicklung gilt Äthiopien als Vorbild für andere afrikanische Länder. Die Regierung steht jedoch wegen Menschenrechtsverletzungen und Unterdrückung der Opposition in der Kritik. Eine politische Lösung der Krise scheint nicht in Sicht.
Die desolate Lage in Äthiopien beschäftigt auch unabhängige Organisationen in Europa. Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) fordert, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel Klartext zur dramatischen Menschenrechtslage sprechen muss, wenn sie am kommenden Wochenende nach Äthiopien reist. "Wer aus Hubschraubern auf unbewaffnete Frauen, Männer und Kinder schießen lässt, darf kein privilegierter Partner der EU und Deutschlands sein", so GfbV-Afrikareferent Ulrich Delius. Für Mittwoch hat die GfbV zu einer Demonstration in Berlin gegen das Schweigen der deutschen Bundesregierung und der EU aufgerufen.
Der Druck der internationalen Gemeinschaft, die ja einen großen Teil der Budgethilfe für Äthiopien leiste, müsse viel stärker werden, fordert Aktivist Tufa. Sonst drohten sich die Proteste und die Gewalt auf umliegende Städte und selbst auf Nachbarländer auszuweiten: "Das könnte verheerende Auswirkungen auf die gesamte Region haben und dazu führen, dass noch mehr Menschen in die politisch ebenfalls angespannten Nachbarländer und nach Europa fliehen."
Mitarbeit: Negash Mohammed