Neues Misstrauen gegen Uiguren
12. November 2013"Die Kontrollen haben zugenommen, die militärischen Truppen wurden verstärkt, neue Wachposten sind errichtet worden", sagt Rebiya Kadeer. Die uigurische Menschenrechtsaktivistin und Präsidentin des "Weltkongress der Uiguren" (World Uyghur Congress, WUC) zeigt sich besorgt über die Vorgänge in ihrer Heimat, der Autonomieregion Xinjiang im Westen Chinas. Seit zwei Wochen, so Kadeer gegenüber der Deutschen Welle, gehe die chinesische Regierung mit äußerer Härte gegen die muslimische Bevölkerung vor. Verhaftungen und Razzien seien an der Tagesordnung.
Auch in Peking bleibt die Lage der Uiguren laut Medienberichten prekär. Uigurische Obsthändler trauten sich nicht mehr auf die Straße - aus Angst vor Gewaltausbrüchen. Hausbesitzer seien immer seltener bereit, Wohnungen an Uiguren zu vermieten. Illham Tohti, prominenter Wirtschaftswissenschaftler der Minzu Universität in Peking und selbst Uigure, erhielt Polizeibesuch, nachdem er ausländischen Journalisten Interviews gegeben hatte. "Die chinesische Regierung versucht mit allen Mitteln, die Uiguren zu dämonisieren und an den Rand der Gesellschaft zu drängen", sagt Kadeer.
Auslöser der neuen Repressalien war ein tödlicher Zwischenfall in Peking am 28. Oktober vor dem Platz des Himmlischen Friedens. Ein mit Benzin beladener Geländewagen raste in eine Zuschauermenge und ging in Flammen auf - direkt unter dem Porträt von Mao Zedong. Mehr als 40 Menschen wurden verletzt. Fünf Personen starben, darunter alle drei Insassen des Fahrzeuges: ein uigurisches Ehepaar und die Mutter des Fahrers.
Die Reaktion von chinesischer Seite erfolgte schnell und heftig: Meng Jianzhu, zuständig für Sicherheitsfragen im Staatsrat, sprach von einem "gewalttätigen, terroristischen Vorfall" und schloss einige Tage nach dem Vorfall die Untersuchungen ab. Gespräche auf sozialen Netzwerken wurden zensiert, Bilder vom explodierten Wagen in der Presse untersagt. Der Platz des Himmlischen Friedens gilt als einer der am besten bewachten Orte der Welt. Ein Anschlag an diesem Ort trifft die chinesische Regierung an empfindlicher Stelle.
Terroranschlag oder Verzweiflungstat?
Laut Beobachtern gab sich das Politbüro auch deshalb Mühe, den Anschlag nicht als Verzweiflungstat eines Einzelnen darzustellen, sondern als gezielt geplante Aktion eines terroristischen Netzwerkes. Anfang November kam es in der von Uiguren bevölkerten Autonomieregion Xinjiang zu ersten Verhaftungen. Der "Weltkongress der Uiguren", Sprachrohr der Exiluiguren, sprach von mehr als 70 Haftanträgen. Zusätzlich wurde der Fahrer des Geländewagens, der 33-jährige Han Sen, als Mitglied der "Islamischen Bewegung Ostturkestan" (ETIM) identifiziert.
Seit mehr als zehn Jahren schreibt Peking dieser wenig bekannten Organisation Explosionen und Attentate im Land zu. Ostturkestan ist die uigurische Bezeichnung für die Region Xinjiang. 2002, im Jahr nach den Anschlägen auf das World Trade Center, gelang es der chinesischen Regierung, die ETIM von den Vereinten Nationen als Zweig des Terrornetzwerkes Al Qaida einstufen zu lassen. Doch ob die Organisation überhaupt besteht, bleibt unter Experten umstritten.
"Wir wissen, dass es in Xinjiang Gruppen gibt, die eine Unabhängigkeit von China anstreben", sagt der ehemalige Nordostasien-Direktor der Washingtoner Brookings Institution, Bates Gill. In wiefern diese Gruppen jedoch in der Lage seien, in Peking einen Anschlag zu verüben, sei nicht belegt. Vor allem, weil China seine Ermittlungsdaten geheim hält. Das ist auch das größte Problem für Robert Daly. "Wir brauchen Belege, weil wir genau wissen, wie schlecht die Lage der Uiguren in Xinjiang ist, und weil sie als einfach zu identifizierende Minderheit immer als erstes für Verbrechen verantwortlich gemacht werden", sagt der Washingtoner Direktor des Kissinger Institutes on China.
Sinisierung in Xinjiang
Die Westprovinz Xinjiang war in den vergangenen Jahren häufig Schauplatz von blutigen Auseinandersetzungen. Die autonome Wüstenregion mit ihren Grenzen zu Pakistan, Afghanistan und einigen zentralasiatischen Ländern ist Heimat vieler muslimischer Minderheiten in China. Neben Kasachen, Kirgisen und Usbeken bilden die Uiguren mit rund zehn Millionen Menschen die größte ethnische Gruppe der Region. Doch seit Ausrufung der Volksrepublik 1949 zogen vermehrt Han-Chinesen nach Xinjiang. Anfangs erfolgte die sogenannte Sinisierungspolitik durch Zwangsumsiedlung, heute kommen die Bürger zur Arbeitssuche in die erdöl- und kohlereiche Region, die auch als Baumwollzentrum Chinas gilt. Mit Auswirkung auf die Statistiken: Waren 1950 noch sechs Prozent der Bevölkerung Han-Chinesen, bilden sie aktuell rund 45 Prozent. Nach offizieller Lesart soll diese Zuwanderung den Uiguren helfen, sich stärker zu integrieren. Tatsächlich jedoch entsteht laut Expertenmeinung eine Zwei-Klassen-Gesellschaft.
Unruhen in der Provinz
"Die höchsten Parteiämter in den autonomen Regionen sind immer in han-chinesischer Hand", sagt Chinaexpertin Gudrun Wacker von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Oft komme es zu Diskriminierungen, wenn Behörden muslimische Feiertage nicht respektieren oder Moscheen keine Baugenehmigung erhalten. Erst im Juni kam es in der Stadt Turpan zu Demonstrationen, weil Ärzten unter anderem untersagt worden war, verschleierte Frauen zu behandeln. Die Polizei erschoss mehr als 40 Uiguren. Es waren die heftigsten Ausschreitungen seit dem Massendemonstrationen vor vier Jahren.
Damals, im Juni 2009, hatte ein Internetvideo für Aufruhr gesorgt. In einer Spielzeugfabrik in der südchinesischen Provinz Guangdong war das Gerücht gestreut worden, uigurische Arbeiter hätten zwei Frauen vergewaltigt. Das Video zeigte, wie Uiguren mit Knüppeln durch die Fabrik gejagt und schließlich zu Tode geprügelt wurden. Die Polizei kam erst nach Stunden zum Tatort. Das Internetvideo sorgte für blutige Proteste in der Provinzhauptstadt Urumqi. Geschäfte und Fahrzeuge wurden zerstört, mehr als 150 Menschen getötet. Die Zahl der Verletzten belief sich auf über 800 Personen.
Laut Gudrun Wacker bedeutete der Fall in Urumqi eine neue Dimension des Uiguren-Konflikts: "Zum ersten Mal verlief die Konfliktlinie nicht mehr zwischen Uiguren und Sicherheitskräften. Diesmal griffen uigurische Demonstranten die han-chinesische Bevölkerung an." Nach den Straßenschlachten wurden die Kontrollen in Xinjiang verschärft. Mit solchen Maßnahmen rechnen Experten auch diesmal. Doch ob die Parole des "harten Durchgreifens" das Problem lösen kann, bleibt zu bezweifeln.
Missglückte wirtschafliche Verbesserung
Neben verstärkten Kontrollen hatte die chinesische Regierung auch versucht, die Krisenregion durch wirtschaftliche Entwicklung zu stabilisieren. Neue Fabriken und eine ausgebaute Infrastruktur sollten Xinjiang mit dem Kernland verbinden. Erst im September dieses Jahres eröffnete Volkswagen als erstes Automobilunternehmen ein Werk in der Hauptstadt Urumqi. Ab 2014 sollen rund 50.000 Fahrzeuge des Modells Santana vom Band gehen. Das generiere Arbeitsplätze – auch für die uigurische Bevölkerung.
Doch laut Expertenmeinung kommen diese Maßnahmen nur bedingt bei den Uiguren an. "Von den neuen Unternehmen profitieren vor allem die Han-Chinesen", sagt China-Expertin Wacker im Gespräch mit der Deutschen Welle. Auch WUC-Chefin Rebiya Kadeer hält die bisherige Politik Chinas für wenig sinnvoll. "Die Regierung unterdrückt jede Form uigurischer Kultur, sei es die Sprache, die Ausübung der Religion oder Traditionen", so Kadeer. "So lange die Diskriminierung und das Töten in der Region nicht aufhören, werden einige Uiguren auch vor extremen Maßnahmen nicht zurückschrecken, um Pekings Machtmissbrauch zu erwidern."