Neue Grenzen in Europa?
14. Juni 2011Aber nicht nur auf dem Gebiet des früheren Jugoslawien ist die Frage der Grenzen eine immer noch offene Frage - auch andernorts in Europa, insbesondere im postsowjetischen Raum, gibt es immer wieder Konflikte, die Unabhängigkeitsbestrebungen als Hintergrund haben. Gleichzeitig ist die Politik der EU in dieser Frage nicht einheitlich.
Balkanisierung - im gewöhnlichen Sprachgebrauch ist das ein politisches Schlagwort für die Aufsplitterung von größeren Staatsgebilden in mehrere kleine, einander oft feindlich gegenüberstehende Nationalstaaten. Im Gegensatz zu vergangenen Jahrhunderten gab es auf dem Balkan nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst für mehrere Jahrzehnte keine Grenzprobleme. Erst mit dem Zerfall Jugoslawiens im Krieg von 1991 bis 1995 kam es zur Bildung neuer Staaten aus den früheren Teilrepubliken - und zu neuer Grenzziehung. Und dies ist begründet in zwei sich widersprechenden Völkerrechtsnormen, erklärt Solveig Richter von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik: "Die eine ist die territoriale Integrität, die andere das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Gerade in Südosteuropa haben wir eine große Dichte an verschiedenen Nationen oder Ethnien, die aufeinandertreffen und die für sich beanspruchen, auf Basis des Selbstbestimmungsrechtes eigene Staaten gründen zu wollen."
Kosovo - kein Präzedenzfall
Und dieser Prozess ist immer noch nicht abgeschlossen. Erst vor gut drei Jahren hat die frühere serbische Provinz Kosovo ihre Unabhängigkeit erklärt, in Mazedonien gibt es nach wie vor Sezessionstendenzen unter der großen albanischen Minderheit und auch in Bosnien und Herzegowina gibt es immer wieder Versuche, jetzige administrative Grenzen als Staatsgrenzen zu begreifen.
Aber nicht nur in Südosteuropa, auch im postsowjetischen Raum gibt es starke Autonomiebestrebungen und Tendenzen, neue ethnisch homogene Staaten zu bilden. Insbesondere im Kaukasus führt das zu immer neu aufflammenden Konflikten: Berg-Karabach, Abchasien oder Südossetien sind nur einige Beispiele. Die Befürchtung der Gegner der kosovarischen Unabhängigkeit, sie würde eine Präzedenzwirkung auf andere Staaten haben, hat sich allerdings nicht bewahrheitet, meint Solveig Richter. So spielen für die Entwicklung beispielsweise im Südkaukasus lokale Entwicklungen oder andere geopolitische und strategische Überlegungen eine wesentlich größere Rolle als das Exempel Kosovo, betont sie.
Das könnte sich aber ändern, sollte es zu einer Teilung des Kosovo kommen, sagt Richter. Dann könne nämlich wieder eine sehr starke ethno-nationale Dynamik entstehen, und es könne zu gewaltsamen lokalen Konflikten kommen. Es bestünde die Gefahr, eine Welle der Gewalt loszutreten, die dann möglicherweise nicht mehr richtig zu kalkulieren oder einzuschätzen wäre.
Teilung des Kosovo als Lösung?
Genau in Richtung einer Teilung des Kosovo scheint aber der serbische Präsident Boris Tadic zu denken. Serbien hat die einseitig erklärte Unabhängigkeit des Kosovo nicht anerkannt. Etwa 90 Prozent der Bevölkerung dort sind Albaner, die größte Minderheit sind Serben - sie leben überwiegend im Norden des Landes, an der Grenze zu Serbien. Mit dieser Haltung steht Belgrad keineswegs allein. Sowohl die Vetomächte im Weltsicherheitsrat Russland und China als auch einige EU-Staaten weigern sich, die Unabhängigkeit des jungen Staates anzuerkennen, darunter Spanien, Griechenland und Rumänien.
Nun hat Tadic in einem Interview für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (Ausgabe vom 03.06.2011) darüber nachgedacht, wie man eine "Vereinbarung, bei der alle Seiten etwas bekommen und die eine tragfähige Lösung, Frieden und Stabilität schafft", finden könne, denn sie wäre "für alle Seiten extrem hilfreich." In dem Zusammenhang sprach er auch von Groß-Albanien und Groß-Serbien. Aus serbischen diplomatischen Kreisen hört man, dass hinter den Kulissen schon einige Zeit darüber gesprochen werde, den Kosovo zu teilen - der nördliche Teil sollte dann Serbien zugesprochen werden, der Rest Albanien.
"Eine Gesellschaft ist keine Beute"
Solchen Überlegungen erteilt allerdings der albanische Außenminister Edmond Haxhinasto eine klare Absage: "Niemand, kein Land, kein Staat, der neue unabhängige Staat Kosovo inbegriffen, sollte als Beute behandelt werden, die aufgeteilt werden kann, um die Wünsche von wem auch immer zu befriedigen. Denn der Kosovo ist kein Territorium. Der Kosovo ist eine Gesellschaft und die Gesellschaft muss geachtet werden, alle ihre Bürger müssen geachtet werden. Eine Gesellschaft kann nicht mit der Obsession für ein Territorium behandelt werden. Das ist gänzlich falsch, gänzlich anti-europäisch, es läuft der Zukunft der Länder der Region zuwider."
Die europäische Politik ist aber in dieser Frage gar nicht eindeutig. Die Zerstrittenheit im Fall Kosovo - von 27 Mitgliedsländer haben fünf den Kosovo nicht anerkannt - hat negative Folgen für alle Beteiligten, sowohl für die EU als auch für Serbien und den Kosovo, aber auch für andere Länder der Region, sagt Solveig Richter. "Das heißt, auch die EU-Mitglieder sind sich nicht einig, ob sie den Staaten des westlichen Balkans tatsächlich in der nahen Zukunft eine Beitrittsperspektive anbieten sollen. Die EU ist gerade dabei ihre eigene sehr stark befriedende Rolle zu unterminieren und auszuhöhlen", meint sie.
Europäische Perspektive ist wichtig
Dabei wäre in beiden Krisenregionen Europas - sowohl im Kaukasus als auch in Südosteuropa - gerade jetzt eine klare und einheitliche Politik der EU wichtig, denn sie kann den Weg in die Zukunft ohne Kriege und ethnische Konflikte aufzeigen, sagt Franz-Lothar Altman von der Südosteuropa-Gesellschaft aus München. "Wenn man sieht, was sich in der Europäischen Union entwickelt hat, wie die Grenzen als solche im täglichen Leben die Bedeutung verloren haben, das ist die Perspektive, die dazu führen sollte zu sagen: Lasst uns doch sehen, was für eine Möglichkeit haben wir hier vor uns, wenn wir dieses unselige nationale Denken endlich mal herunterschrauben können auf eine vernünftige perspektivische Aussicht."
Autor: Zoran Arbutina
Redaktion: Robert Schwartz