Neue Fragen um Syriens Chemiewaffen
20. Januar 201421. August 2013: In den frühen Morgenstunden werden Stadtteile im Osten der syrischen Hauptstadt Damaskus mit Chemiewaffen angegriffen, in einem von Rebellen kontrollierten Gebiet. Wenig später stehen im Internet Videos, Fotos und Augenzeugenberichte. Experten begutachten die Symptome der Toten und Verletzten und sind sich schnell einig: Es war das Nervengift Sarin, mit dem hunderte Menschen getötet und verletzt wurden. Nach Angaben der US-Regierung starben 1429 Menschen - unter ihnen 426 Kinder.
Neun Tage später beschuldigt US-Außenminister John Kerry auf einer Pressekonferenz syrische Regierungstruppen, das Kriegsverbrechen begangen zu haben. Unter anderem präsentiert er eine Karte von Damaskus, die die von Regierungstruppen und die von Rebellen kontrollierten Gebiete zeigt. Am 3. September tritt er in Washington vor den Senatsausschuss für Auswärtige Beziehungen und sagt: "Wir sind sicher, dass niemand der Opposition diese Waffen hat oder die Fähigkeit besitzt, einen Angriff dieser Größenordnung auszuführen - insbesondere nicht aus dem Herzen des regimekontrollierten Gebiets."
Kein Angriff mitten aus dem Regierungsviertel
Vor allem für diese Aussage wird Kerry nun kritisiert. Es sei nicht möglich, dass der Angriff aus "dem Herzen" des regimekontrollierten Gebiets erfolgt sei, schreiben zwei US-amerikanische Wissenschaftler in einem 23-seitigen Gutachten des Massachusetts Institute of Technology (MIT).
Detailliert legen der ehemalige UN-Waffeninspektor Richard Lloyd und der Experte für Nationale Sicherheit Theodore A. Postol dar, dass die eingesetzten Raketen eine viel zu kurze Reichweite gehabt haben, um aus dem Zentrum des Regierungsgebiets abgefeuert worden zu sein. Das "Herz" von Damaskus sei zwischen fünf und zehn Kilometern vom Einschlagort entfernt. Die eingesetzten Waffen hätten aber nur etwa zwei Kilometer weit fliegen können.
Umgebaute Trägerraketen
Ursache für die kurze Reichweite sei, dass die Angreifer auf den Raketen je einen Kanister mit Sarin installiert hätten, wodurch sich die Flugfähigkeit verschlechtert habe. Dadurch hätten die Waffen anstatt der üblichen 20 Kilometer eben nur zwei Kilometer zurückgelegt.
Gänzlich neu ist diese Erkenntnis nicht. Bereits vor einem Monat hatte der UN-Inspekteur Ake Sellström auf einer Pressekonferenz Zweifel an der Darstellung aus Washington geäußert. Als die UN-Inspektoren unter seiner Führung in Damaskus die Überreste der Raketen untersuchten, sei klar geworden, dass die Reichweite viel kürzer als angenommen war. "Wir kennen zwar nicht das Gewicht oder etwas anderes, aber zwei Kilometer sind eine gute Schätzung", sagte Sellström seinerzeit.
Auch der ehemalige Bundeswehr-General Egon Ramms gibt sich nach dem Lesen der MIT-Studie im Gespräch mit der Deutschen Welle sicher, dass die Raketen nicht weit fliegen konnten. "Ich gehe mal davon aus, dass die Reichweite tatsächlich aufgrund der Manipulationen, die gemacht worden sind, wesentlich geringer ist, als das, was man ursprünglich mit diesem Raketenwerfer erreichen konnte."
Fahrlässiger Umgang mit Quellen
Weder die Autoren der MIT-Studie noch Ramms leiten aus der verkürzten Reichweite der Raketen ab, dass der Angriff nicht von Regierungstruppen ausgeführt worden sei. Vielmehr steht die Frage im Raum, warum die US-Regierung erneut mit fragwürdigen Geheimdienst-Informationen an die Öffentlichkeit geht, nachdem sie mit dem Geheimdienst-Debakel um vermeintliche Massenvernichtungswaffen im Irak 2003 international in die Kritik geriet. "Was immer die Ursache für diese ungeheuerlichen Fehler im Nachrichtenmaterial gewesen sein mag, die Quelle für dafür muss erklärt werden", resümieren Lloyd und Postol in ihrem Papier. "Wenn man mit Nachrichtendiensten umgeht, dann sollte man sich immer auf die Zwei-Quellen-Theorie verlassen. Wenn man die zweite Quelle nicht hat, dann sollte man mit solchen Informationen vorsichtig sein", betont auch Ex-General Ramms.
Ramms unterstreicht aber, dass die internationale Gemeinschaft nach dem Angriff im August den Druck auf Syrien so verstärkt hat, dass das Regime der Vernichtung seiner Chemiewaffen zustimmen musste. Bis Ende Juni sollen rund 1000 Tonnen Chemikalien auf dem US-amerikanischen Spezialschiff "Cape Ray" vernichtet worden sein - irgendwo auf hoher See. Großbritannien und Deutschland beteiligen sich ebenfalls an der Zerstörung der syrischen Chemiewaffen. Norwegen, Dänemark, Russland, China und Großbritannien schicken zudem Kriegsschiffe zum Schutz.
Prekärer Zeitplan
Aber der Zeitplan ist ins Stocken geraten. Bislang wurden nur wenige Tonnen der Chemiewaffen-Komponenten in die syrische Hafenstadt Latakia gebracht, wo sie verschifft werden sollen. Laut der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) haben Kämpfe, Bürokratie und schlechtes Wetter den Ablauf verzögert.
Zusätzliche Probleme beim Zeitplan macht derzeit ein italienischer Kommunalpolitiker. Da die "Cape Ray" nicht selber nach Syrien fährt und die Chemikalien stattdessen auf zwei Frachtschiffe aus Dänemark und Norwegen verladen werden, muss die Fracht irgendwo umgeladen werden - was frühestens Anfang Februar passieren kann. Die italienische Regierung will dafür den Hafen Gioia Tauro in Kalabrien zur Verfügung stellen. Doch in der süditalienischen Stadt regt sich Widerstand.
Bürgermeister Renato Bellofiore beklagt, dass die Regierung in Rom ihn nicht vorab informiert habe. "Unter den Menschen breitet sich Panik aus." Der Bürgermeister des Nachbarorts San Ferdinando, in dem sich die meisten Hafenanlagen befinden, erwägt, das Gebiet per Erlass zu schließen und den Chemiewaffentransfer damit zu verhindern.