Neue Begeisterung
1. Januar 2007Die Deutschen sind begeisterungsfähig. Das haben sie anlässlich der Fußballweltmeisterschaft im abgelaufenen Jahr gezeigt. Nur ein bisschen von dieser Begeisterung sollte in die deutsche Präsidentschaft für die Europäische Union hinüberschwappen. Es wäre ein toller Erfolg, würde es der Ratspräsidentin Angela Merkel gelingen, Europapolitik nicht unter den Vorzeichen von Skepsis und Bedenken zu betreiben, sondern offensiv für Europa zu werben. Motivationsarbeit nach dem Vorbild des ehemaligen Fußballnationaltrainers Jürgen Klinsmann sozusagen.
Riesige Chance
Das in der Verfassungskrise festgefahrene Europaprojekt hätte es nötig. Mit dem 50. Geburtstag der europäischen Einigung, der zufällig in die deutsche Präsidentschaft fällt, hat Merkels Mannschaft eine Riesenchance, für die Zukunft Europas und den Verfassungsvertrag Dampf zu machen. Hoffentlich fällt ihr dazu mehr ein als nur schöne Reden und multikulturelle Veranstaltungen rund ums Brandenburger Tor.
Die feinsinnige Unterscheidung bei der Verfassungsdebatte zwischen Fahrplan einerseits und Substanz andererseits, eine Unterscheidung, die die Kanzlerin vornimmt, um im Falle eines Scheiterns den Schaden möglichst klein halten, ist für den durchschnittlichen Politikfan schon zu hoch. Der muss handfeste Resultate sehen können, damit er sich begeistern kann. Um im Bild des Fußballs zu bleiben: Gefragt sind kein Kunstdribbling, sondern Tore.
Europa will wissen, was in der Verfassung stehen soll, welche Regeln es geben soll und wie sie verabschiedet werden kann. Zwei Jahre des Nachdenkens nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden sollten eigentlich ausreichen.
Kurze Zeit
Fairerweise muss man sagen, dass der Gestaltungsspielraum für Cheftrainerin Merkel eher klein ist. Denn in Frankreich wird gewählt. In Großbritannien wird im Sommer ein neuer Regierungschef antreten. Niemand weiß genau, wie sich diese beiden wichtigen EU-Länder in der Verfassungsdebatte verhalten werden. Neben der Zukunft der EU muss die deutsche Präsidentschaft dringend das Verhältnis zum Energielieferanten Russland verbessern, die Annäherung an die möglichen Energielieferanten in Zentralasien suchen und neue Ansätze im Nahen Osten suchen, aus dem Europa sehr viel Energie bezieht.
Mit dem Werben für Europa kann die Ratspräsidentin gleich bei ihrer eigenen Mannschaft beginnen. Denn viele ihrer Minister wehren sich vehement gegen eine europäische Vergemeinschaftung der Aufgaben. Alles Schlechte kommt aus Brüssel von der EU-Bürokratie, alles Gute entscheidet Berlin. So ist leider vielfach die simple, falsche Logik. Das muss aufhören. Attacken von Ministern etwa auf die Autorität des Europäischen Gerichtshofes oder der Europäischen Zentralbank sind überflüssig.
Sechs Monate sind eine sehr kurze Zeit, um all die Erwartungen zu bedienen. Das wird keine leichte Aufgabe für das deutsche Team. Zum Wort des Jahres 2006 wurde "Fanmeile" gewählt. Dass im nächsten Jahr "EU-Verfassung" die Auszeichnung erhält, ist eher unwahrscheinlich - aber versuchen sollte man es schon.