Nemzow-Preis für russische Oppositionelle
13. Juni 2019Noch nie war der noch junge Boris-Nemzow-Preis so aktuell wie bei der Verleihung am Mittwoch. Zu Beginn der Zeremonie, die zum vierten Mal im Gremiensaal der Deutschen Welle in Bonn stattfand, wurden Videos aus Moskau eingespielt. Tausende gingen auf die Straße, um gegen Willkür im Fall des Enthüllungsjournalisten Iwan Golunow zu demonstrieren.
Unter den Festgenommen war auch der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, einer der Finalisten des Nemzow-Preises. Er wurde später freigelassen. Ein Festredner aus Russland trug ein T-Shirt mit der Aufschrift "Ich bin / Wir sind Iwan Golunow", mit der zuvor drei russische Zeitungen den Protest auf eine neue Ebene gehoben und zur Freilassung des Journalisten beigetragen hatten.
Drei von fünf Finalisten unter Arrest
Als der 2015 ermordete Oppositionspolitiker Nemzow noch am Leben war, war er oft bei solchen Demonstrationen dabei. Den Preis hat seine Tochter, die DW-Reporterin Zhanna Nemzova, ins Leben gerufen. Ausgezeichnet werden seit 2016 diejenigen, die "sich im Kampf für die Meinungsfreiheit und bei der Hilfe für politisch, rassisch oder religiös Verfolgte besonders engagieren". "Es geht um Mut", sagt Nemzova. Die Konsequenz dafür im heutigen Russland ist oft mit Freiheitsentzug verbunden. Drei der fünf Finalisten des Nemzow-Preises 2019 sind derzeit in Haft oder unter Hausarrest, darunter die Preisträgerin.
Wer die Auszeichnung bekommt, entschied sich in zwei Schritten. Zunächst wurde auf der Internetseite der renommierten russischen Zeitung "Nowaja gaseta" über mehr als 30 Nominierte abgestimmt. Dann wählte der Stiftungsrat der Boris-Nemzow-Stiftung aus fünf Favoriten den Sieger. In diesem Jahr ging der Nemzow-Preis an Anastasia Shevchenko, eine Oppositionspolitkerin aus dem südrussischen Rostow-am-Don. Die 39-Jährige ist Koordinatorin der Bewegung "Open Russia" (Offenes Russland) des Kreml-Kritikers und ehemaligen Ölmilliardärs Michail Chodorkowski.
Im Fall Shevchenko wurde zum ersten Mal in Russland ein neues Gesetz angewandt. Es stellt Zusammenarbeit mit Organisationen unter Strafe, die als "unerwünscht" eingestuft wurden, darunter "Open Russia". Die ehemalige Journalistin wurde im Januar festgenommen und unter Hausarrest gestellt. Ob und wann es zu einem Prozess kommt, ist unklar. Ihr drohen bis zu sechs Jahren Haft.
Für Aufsehen sorgte Shevchenko russlandweit auch wegen tragischer persönlicher Umstände. Wenige Tage nach ihrem Hausarrest verschlechterte sich der Zustand ihrer älteren Tochter, die an einer schweren Krankheit litt. Doch Shevchenko durfte ihre Tochter wegen Hausarrests nicht in einer Anstalt besuchen und nicht pflegen. Als schließlich doch eine Genehmigung erteilt wurde, war es zu spät: Die Tochter verstarb.
Menschenrechtsorganisationen, darunter "Amnesty International", stuften Shevchenko als politische Gefangene ein. Die russische Menschenrechtsorganisation "Memorial" schätzt die Zahl politischer Gefangener in Russland auf fast 300. "Das Wichtigste ist, dass die Preisträgerin stellvertretend für Menschen steht, die sich derzeit in Russland politisch für Freiheit und Demokratie engagieren", sagte der Laudator Bijan Djir-Sarai in einem DW-Gespräch. Man wolle deutlich machen, dass diese Menschen "nicht alleine und nicht vergessen" seien, so der FDP-Bundestagsabgeordnete.
Tochter vertritt Mutter bei der Preisverleihung
Zur Preisverleihung nach Bonn schickte Anastasia Shevchenko ihre jüngste Tochter Wlada. Die 15-jährige Schülerin war sichtlich aufgeregt und begeisterte das Publikum mit einer engagierten Rede. "Meine Mutter ist eine starke Frau, doch sie braucht Unterstützung", sagte das Mädchen und bedankte sich für den Preis bei allen Beteiligten. Ihr Auftritt lockerte die Stimmung im Saal auf, die nach Geschichten über Folter und Justizwillkür in Russland bedrückt war. "Mein siebenjähriger Bruder sagte, er möchte Präsident werden, um Mama freizulassen", sagte Wlada und sorgte für viele Lacher.
Etwas an Wlada erinnert an die schwedische Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg, mit der sie fast gleichalt ist. Zum Schluss überreichte Zhanna Nemzova der Tochter der Preisträgerin eine in diesem Jahr zum ersten Mal verliehene Auszeichnung – ein Stück Holz aus einer rund 2000 Jahre alten russischen Eiche, veredelt mit einem Titanstreifen.
Erinnerung wach halten
Der Nemzow-Preis ist damit noch symbolischer und greifbarer geworden. Die Preisträgerin habe zu Nemzows Schicksal eine direkte Verbindung, erzählte ihre Tochter der DW. "Nach seiner Ermordung hat sich meine Mutter an der ersten oppositionellen Kundgebung beteiligt", so Wlada Shevchenko. "Sie hat ihn als Politiker sehr respektiert, und so hat sie ihre politische Karriere begonnen."
Als sie ihren Klassenkameraden neulich über den Nemzow-Preis erzählte, wusste keiner über den einst bekannten Politiker Bescheid. Das habe sie sehr verwundert, sagte die Schülerin. In der Tat ist Nemzows Name zuletzt öfter im Ausland zu hören, wo nach ihm Straßen benannt werden, als in Russland. Der Nemzow-Preis sieht seine Aufgabe auch darin, die Erinnerung wach zu halten.