Verstehen Sie Wald?
9. August 2018Es gibt nur wenige Orte in Deutschland, wo der Mythos Wald so präsent ist wie am Arbeitsplatz von Erik Aschenbrand. Der Naturpark Reinhardswald, den Aschenbrand leitet, ist eines der Herzstücke der deutschen Märchenstraße, auf der man auf 600 Kilometern all die Orte abwandern kann, die laut Überlieferung Heimat für Prinzessinnen, Trolle, Geißlein und Kobolde sind.
Ringsum Aschenbrands Wald haben die Gebrüder Grimm viele ihrer Märchen gesammelt. Auch das von Dornröschen, das hier ganz in der Nähe, umgeben von einer dornigen Hecke, hundert Jahre geschlafen haben soll, bevor ein mutiger Prinz es wach küsste. Oder jenes von Rapunzel, die, eingesperrt in einem Turm in der Nähe, ihr goldenes Haar herab zu ihrem Retter ließ.
Die Grimms haben aufgeschrieben, was vor ihnen lange Zeit mündlich weitergegeben wurde. Wie viel Wahrheit darin steckte, ist nebensächlich. Wichtig ist die Geschichte und das Erzählen. Und der dunkle Wald spielt in vielen dieser Überlieferungen eine entscheidende Rolle.
Naturparkchef Aschenbrand verweist auf Hänsel und Gretel. "Die werden in den Wald geschickt", erklärt er. "Im Wald lauert die Gefahr in Form der bösen Hexe. Aber die beiden überwinden diese Gefahr und kommen glücklich aus dem Wald wieder heraus." Der finstere Wald sei der wilde Raum, der gefährliche Raum, in dem man sich mit Herausforderungen auseinandersetzen müsse.
Wie "böse" der Wald wahrgenommen wird, hängt stark von der Perspektive des Betrachters ab. Für Menschen, die im und vom Wald leben, ist er nicht finster. Für die, die außerhalb leben, schon.
Der Ursprung
"Der Schwarzwald heißt nicht Schwarzwald, weil er dunkle Schatten wirft", erklärt Uwe Schmidt, Professor für Wald- und Forstgeschichte an der Universität in Freiburg. "Wenn man sich Gemälde aus dem Mittelalter anguckt, springt einem die Waldfeindlichkeit förmlich entgegen. Da wird der Wald gar nicht gemalt, weil er "schwarz", also unzivilisiert und siedlungsfeindlich ist. Stattdessen sind die Hintergründe mittelalterlicher Gemälde in Gold gefasst, der Farbe der Reinheit und Unvergänglichkeit."
Ganz im Gegensatz zu heutigen Städten, in denen Grünflächen und Bäume von den Bewohnern sehr geschätzt werden, war die Natur in den Siedlungszentren des Mittelalters nicht willkommen. So gab es im Freiburg des Mittelalters beispielsweise so gut wie keine Bäume und das, obwohl die Stadt mitten im Schwarzwald liegt, so Schmidt.
Nur als Ressource waren die Bäume gut. Sie bedeuteten eine scheinbar unbegrenzte Quelle für Holz und wurde radikal ausgebeutet. Spätestens im Zeitalter des Barock wird deutlich, dass es so nicht geht.
Aufschwung, Ausbeutung, Umdenken
Denn im späten 16. bis 18. Jahrhundert wuchsen die Städte, der Handel blühte, Paläste und Schlösser wurden größer und prunkvoller. Vor allem die Händler und Handwerker versuchten, ihr Vermögen zu mehren und der Wald wurde zum Hauptenergielieferanten.
Im 18. Jahrhundert wurden bis zu zehn Millionen Kubikmeter Holz pro Jahr für neue Dachstühle, Schiffsrümpfe und für die Holzkohlenherstellung geschlagen, sagt Historiker Schmidt. Letztere hält die ersten industriellen Betriebe am Laufen, denn Steinkohle war im großen Stil noch nicht einsetzbar und zu transportieren.
Das war nicht nachhaltig und mit den Jahrzehnten litt der Wald mehr und mehr, vor allem in der Nähe größerer Gewerbezentren und Städte. Damit wurde er ein Thema für die Romantiker.
Der verletzte Wald und die Romantik
Angetrieben durch die neu erwachte Liebe zur Natur, besangen sie den Wert des Waldes und entdeckten die armen Leute, die schon immer im und mit dem Wald gelebt hatten, für sich.
In diesem Milieu sammelten die Gebrüder Grimm ihre Märchen, ob die nun im Reinhardswald erzählt wurden oder im Spessart, Hameln oder Bremen. Es waren Geschichten, die ein bisschen düster, ein wenig schaurig und sicher fremd für die Städter waren.
So ähnlich ist es auch heute noch, wenn Menschen aus der Großstadt die Natur als Rückzugsort entdecken, sagt Naturparkchef Aschenbrand. Etwa, wenn es um das Anlegen von Naturschutzgebieten geht.
"Die Städter haben einen völlig anderen Blick auf die Natur, als die Leute, die vor Ort sind." Damals, zu Beginn der Industrialisierung im 18. Jahrhundert, und auch heute waren und sind Städter auf der Suche nach einer heilen Welt. "Sie wollen den Wald als Gegenwelt zu ihrer Stadt sehen", so Aschenbrand.
Aufgeladener Mythos und eine Energiewende
Waldforscher Uwe Schmidt spricht sogar von einer "Wald-Verherrlichung". Wald und Bäume würden in der Romantik mit Symbolen aufgeladen. Und es ist auch die Zeit, in der die geschlagenen Lücken wieder aufgefüllt werden. "In der Romantik werden Pionierbaumarten gepflanzt. Das waren in erster Linie Fichten im Südwesten und Kiefern in Norddeutschland", sagt Schmidt.
Diese Bäume ändern nicht nur das Erscheinungsbild des Waldes, sondern auch das Ansehen von allem, was mit ihm zusammenhängt. Ende des 19. Jahrhunderts wird der Förster zunehmend als Traumberuf gesehen. Es gebe sogar Statistiken darüber, wie viele Männer Förster werden wollen und wie viele Frauen Förster heiraten wollten, so Schmidt. "Der Wald bekommt, auf breite Masse gesehen, eine sehr gute Reputation."
Durch das Dickicht der Geschichte
Im Nationalsozialismus schließlich wird der Wald ideologisch aufgeladen. Die innige Verbindung der Deutschen zum Wald kommt dazu, angeblich vorhanden seit der Varusschlacht im Teutoburger Wald, wo der Germane mit seinem Verbündeten, dem Wald, die Römer besiegen konnte. Für die Nazis sind deutscher Wald und deutsches Volk eine Einheit. Und natürlich geht es um Ausgrenzung: Juden, hieß es damals, seien als Steppenvolk nicht fähig, die deutsche Waldkultur zu verstehen, so Schmidt.
Nach dem Ende des Krieges nutzten die Menschen den Wald, um den Krieg zu vergessen. "Der Wald, die Natur, haben sich schneller regeneriert als zerbombte Städte", so Schmidt. Unter Bäumen ließen sich Zerstörung und Desaster zumindest für eine gewisse Zeit vergessen. "Dass der Wald vorher von den Nationalsozialisten für ihre Ideologie missbraucht worden war, war vergessen; der Wald hatte eine eigene Wertigkeit."
Und wertvoll blieb er auch in den nachfolgenden Jahrzehnten. Der Wald stand gesellschaftlich so hoch im Kurs, dass man sich in den 1980er Jahren ernsthaft Sorgen um seinen Erhalt machte.
"Als das Phänomen des Waldsterbens aufkommt, wird dies nicht nur in Wissenschaftskreisen diskutiert und behandelt, sondern in allen Gesellschaftsschichten wahrgenommen", sagt Schmidt. Als großflächige Schädigungen an Baumwipfeln und Wurzeln auftraten, wurden "regelrechte Endzeitszenarien entworfen, wie der Wald in zwei oder drei Dekaden in Deutschland aussehen werde." Das habe zu einem immer stärkeren Umweltbewusstsein geführt. Die Menschen begannen, sich den Folgen ihrer Wohlstandsgesellschaft bewusst zu werden.
Und das, resümiert der Waldforscher, "zeigt, dass der Wald stets ein Spiegel der Gesellschaft ist. Die deutsche Geschichte ist ein exzellentes Beispiel dafür, welche vielfältige Funktionen der Wald haben kann und welchen gesellschaftlichen Wert er besitzt."