"Viele Griechen kollaborierten mit den Nazis"
28. Oktober 2018Vor 74 Jahren, am 12. Oktober 1944, zog sich die Deutsche Wehrmacht aus Athen zurück. Von 1941 bis 1944 hatte die Wehrmacht Griechenland besetzt. Längst nicht alle Griechen verurteilten das militärische Vorgehen Nazideutschlands. Zahlreiche griechische Männer arbeiteten - auch aus politischen Gründen - mit den Besatzern zusammen.
Die Untersuchung des Kollaborationsphänomens in Griechenland war - wie in anderen europäischen Ländern auch - jahrzehntelang ein "Tabuthema", diese Ansicht vertritt Stratos Dordanas, Forscher für Neuere europäische und balkanische Geschichte an der Universität von Makedonien im DW-Interview.
DW: Professor Dordanas, was waren die Konsequenzen des Zweiten Weltkriegs für Griechenland?
Dordanas: In den vergangenen Jahren sind bedeutende wissenschaftliche Studien, die zur nüchternen Deutung der Ereignisse beigetragen haben, veröffentlicht worden. Dennoch stellt sich nach wie vor die Frage, ob die griechische Gesellschaft inzwischen in der Lage ist, diesen unangenehmen Aspekt ihrer Geschichte emotionslos zu betrachten, in dem Versuch, ihn zu akzeptieren und anschließend aus der Geschichte zu lernen.
Wie wichtig war die Rolle des Widerstands in Griechenland?
Sehr wichtig. Die ELAS (Griechische Volksbefreiungsarmee) war die bedeutendste griechische Guerillaorganisation, die dem direkten Einfluss der Kommunistischen Partei (KKE) unterstand. Von Anfang an sahen sich die Achsenmächte und vor allem die deutschen Truppen mit einem der am schwierigsten zu lösenden Probleme des Zweiten Weltkriegs konfrontiert, nämlich dem Partisanenkrieg.In unmittelbarem Zusammenhang damit aber auch mit der Frage, welche Haltung sie gegenüber der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten einnehmen sollten. In diesem Rahmen war das vorrangige Ziel die Erstickung des Widerstands an der Front im Inland, bevor dieser größere Ausmaße annehmen und sich zu einer unkontrollierbaren Bedrohung entwickeln konnte.
Wie war dieser Widerstand organisiert?
Die Partisanen nutzten Dörfer als Basis für ihren Nachschub, zur Tarnung für Hinterhalte, als Fluchtweg, als Informationsquelle und zur Rekrutierung von Männern, Führern und Boten. Die Besatzungstruppen versuchten dieses Band zwischen den Partisanen und der Zivilbevölkerung auf drastische Weise zu zerschneiden. Die Ausweitung der Widerstandsfront machte in den Jahren 1943 und 1944 das ganze Land zum Feld militärischer Operationen. Die klare Linie, die die Bewaffneten von der Zivilbevölkerung unterschied, wurde nahezu bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Jeder Zivilist war ein potentieller Feind und das Prinzip der Kollektivhaftung wurde angewandt.
Wie verbreitet war die Kollaboration mit den Nazis und wie genau haben die Griechen kollaboriert?
Heute sind wir ganz sicher, dass viele Griechen während des Krieges mit der deutschen Wehrmacht und der SS kollaboriert haben. Zu Mitgliedern der Sicherheitsbataillone wurden griechische Männer aus ganz unterschiedlichen Motiven. Für einige von ihnen bedeutete der Griff zu den Waffen - respektive die Übernahme der nationalsozialistischen Ideologie - ein neues Abenteuer. Damit verbunden waren: die Einnahme von öffentlichen Ämtern und Ministerposten, die Chance, von der Verteilung der Kriegsbeute und des jüdischen Vermögens zu profitieren oder unverhofft eine Überlebenschance unter den schwierigen Bedingungen der Besatzungszeit zu bekommen. Für andere stellte die Kollaboration die einzige Möglichkeit dar, ihr Leben, ihre Familie und ihre Dörfer vor den Angriffen der ELAS zu schützen.
Gibt es für all das einen gemeinsamen Nenner?
Der gemeinsame Nenner all dieser unterschiedlichen Ausgangspunkte für Kollaboration war der Antikommunismus. Der kennzeichnete die Militärs, die Ideologen des Nationalsozialismus sowie die Taten ihrer Anhänger. Während des untersuchten Zeitraums wurde der Antikommunismus eines bedeutenden Teils der griechischen Bevölkerung durch eine intensive Slawophobie - und insbesondere Bulgarophobie - verstärkt. Das führte dazu, dass bei einer noch größeren Anzahl von Griechen patriotische Reflexe gegenüber der bestehenden Gefahr einer Abtrennung Makedoniens zugunsten des mit Deutschland verbündeten Bulgarien ausgelöst wurde.
Wie groß war die Zahl derer, die die Deutschen unterstützten?
Insgesamt gehörten über 20.000 Bewaffnete den verschiedenen Bataillonen an. Sie waren der gefürchtetste Gegner der ELAS und unterstanden dem Befehl des "Höheren SS- und Polizeiführers in Griechenland", dem Generalleutnant der Waffen-SS Walter Schimana.
Was ist mit den Kollaborateuren nach dem Ende des Krieges passiert - haben Prozesse stattgefunden?
In der Nachkriegszeit, vor allem von 1945-1950, mussten sich alle Mitglieder der Sicherheitsbataillone und die Ideologen des Nationalsozialismus, die überlebt hatten, vor Gericht verantworten. Bald jedoch wurde klar, dass der griechische Staat nicht wirklich die Absicht hatte, die Kollaborateure zu bestrafen. Sogar in den Fällen, die vor dem Sondergericht landeten, wurden die auferlegten Strafen, wie schwer sie auch waren, nach kurzer Zeit durch königliche Erlasse und den Begnadigungsausschuss widerrufen.
So öffneten sich ab Anfang der 1950er Jahre die Gefängnistore. Die früheren griechischen Anhänger der NS-Weltanschauung wurden in den antikommunistischen Staat integriert, sofern sie das nicht schon früher über die Reihen der "Nationalen Armee" und durch ihre Teilnahme am Bürgerkrieg (1946-49) erreicht hatten.
Ist das ein typisch griechisches Phänomen?
Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten stellt Griechenland bei der Frage der Bestrafung der Kollaborateure keine Ausnahme dar. Die bewaffnete Kooperation mit der deutschen Besatzungsmacht war ein europaweites Phänomen, das die Gesellschaften unmittelbar nach Kriegsende sehr schnell aus ihrem Gedächtnis streichen wollten, weil sie ihren demokratischen und inzwischen friedlichen Weg fortsetzen wollten. Das griechische Verhalten unterscheidet sich in der geringen Anzahl derer, die letztendlich verurteilt worden sind - wobei nicht vergessen werden darf, dass dem Ende der Besatzungszeit ein blutiger Bürgerkrieg gefolgt ist.
Es war fast unmöglich für mich als Journalistin, Nachfahren von Kollaborateuren zu finden, die bereit waren über ihre persönliche Geschichte zu sprechen. Warum?
Die Untersuchung des Kollaborationsphänomens in Griechenland stellte, wie in anderen europäischen Ländern auch, jahrzehntelang ein "Tabuthema" dar, das die griechische Geschichtsschreibung zu subjektiven Schlussfolgerungen verleitete und auf Berufshistoriker abschreckend wirkte.
Die ideologische Polarisierung aus der Bürgerkriegszeit stand der systematischen und vor allem wissenschaftlichen Untersuchung dieses Themas entgegen. Für seine Untersuchung war zuallererst das Verstreichen eines angemessenen Zeitraums erforderlich, da die Kollaboration während der deutschen Besatzungszeit den nationalen Zusammenhalt der einheimischen Bevölkerung gefährdet hatte.
Außerdem waren viele Griechen, die mit dem Feind kollaboriert und sich "verräterisch" betätigt hatten, auch während des Bürgerkriegs im Staatsapparat tätig. Auch heute ruft dieses Thema lebhafte Debatten und Auseinandersetzungen hervor, während sich der Mythos des einheitlichen nationalen Widerstands - anstelle der polarisierenden Vergangenheit - politisch und kulturell durchgesetzt hat.
Was ist der aktuelle Stand der geschichtlichen Aufarbeitung in Griechenland?
Die in den vergangenen 15 Jahren in Griechenland auf akademischer und auf öffentlicher Ebene geführte Debatte über die 1940er-Jahre hatte Folgen: Viele Fragen, die bis dahin als Tabu galten, kamen an die Oberfläche und wurden dann einer wissenschaftlichen und sachlichen Betrachtung unterzogen. Dies geschah oft unter schwierigen Bedingungen und die Debatte verlief nicht ohne Kontroversen und Spannungen.
Auf jeden Fall trug das lebhafte Interesse am Zweiten Weltkrieg dazu bei, dass sowohl die Zeit der deutschen Besatzung als auch des nachfolgenden Bürgerkriegs in die Studienprogramme mehrerer Universitäten aufgenommen wurden. Viele internationale Tagungen wurden veranstaltet und eine Vielzahl von wissenschaftlichen Studien hierüber erstellt. Neue Fragen gewannen an Aktualität, alte Fragen wurden im Lichte des Zugangs zu bisher unter Verschluss gehaltenen Archiven erforscht. Dieses neu erwachte Interesse weitete sich dann auch auf das Gebiet der Public History aus, also außerhalb des akademischen Umfelds.
Das Interview führte Maria Rigoutsou.