"NATO muss Verteidigung neu ausrichten"
16. März 2022Jens Stoltenberg schlägt dreimal mit einem Hammer rechts vor sich auf den Tisch. Um sich Gehör zu verschaffen. Der Generalsekretär der NATO, ein Norweger, hat keinen leichten Tag vor sich. Auf der Tagesordnung steht wieder der Krieg in der Ukraine.
An diesem Mittwoch kommen die Verteidigungsminister der 30 NATO-Verbündeten in Brüssel zusammen. Eingeladen sind außerdem ihre Kollegen aus der Ukraine, Georgien, Finnland, Schweden sowie Vertreter der EU, teilweise per Video zugeschaltet. Das Treffen gilt als Vorbereitung für einen NATO-Gipfel in Anwesenheit von US-Präsident Joe Biden in der nächsten Woche.
Spätestens seit Beginn von Russlands "sinnlosem Krieg" in der Ukraine, so beschreibt ihn Stoltenberg, muss sich der Nordatlantikpakt einige Fragen gefallen lassen. Vor allem vom Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj.
Zum Beispiel, warum die NATO die Ukraine nicht unterstützt, indem sie eine Flugverbotszone über dem Land einrichtet. Eine Bitte, die Selenskyj so oft wiederholt, wie Stoltenberg sie ausschlägt.
Auch wenn einige wenige NATO-Partner wie Estland, als Nachbar Russlands, für eine solche Verbotszone im Luftraum plädieren, lehnt die das Bündnis es bisher vehement ab. Um eine solche Zone durchzusetzen, müssten NATO-Kampfflugzeuge in den ukrainischen Luftraum fliegen und russische Flugzeuge abschießen.
Die NATO habe bisher immer betont, dass sie auf ukrainischem Boden nicht direkt militärisch eingreifen werde, sagt Linas Kojala, Direktor des Thinktanks Eastern Europe Studies Centre im litauischen Vilnius. Eine No-Fly-Zone würden die Bündnispartner also auch in Zukunft nicht in Betracht ziehen.
Keine NATO-Truppen in der Ukraine
Eine Haltung, die auch die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht in Brüssel unterstreicht. Natürlich stehe man konsequent an der Seite der Ukraine, doch es sei auch wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren.
"Wir müssen deutlich machen: Das ist kein Krieg, an dem die NATO beteiligt ist", sagt Lambrecht. Ziel des Bündnisses müsse es sein, einen Flächenbrand zu vermeiden.
Auch wenn die NATO und ihre Mitglieder immer wieder deutlich machen, dass sie sich nicht selbst in der Ukraine einmischen werden, weil der Staat zwar ein Nachbar, aber eben kein Bündnispartner sei, ist eines klar: Die NATO kann nicht einfach so weitermachen wie vor dem 24. Februar, dem Tag, an dem russische Panzer über die Grenze in die Ukraine rollten.
Generalsekretär Stoltenberg sagt am Mittwoch selbst, dass die "brutale Invasion" der Ukraine die Sicherheit in Europa verändern werde, dass Russlands Krieg langfristige Folgen haben werde für die gesamte Allianz.
Mehr Truppen an der Ostflanke
Bei diesen langfristigen Folgen geht es um ganz praktische Fragen: Wie viele Truppen sollen wo stationiert werden? Welches militärische Equipment wird gebraucht? Wie viel muss investiert werden?
Aber auch um etwas Grundsätzliches: Was will und kann die NATO in Sachen Verteidigung und Abschreckung tun? Geht es ihr darum, nur einige Truppen zu stationieren oder im Fall eines Angriffs auf ein Mitgliedsland tatsächlich dieses verteidigen zu können?
Tony Lawrence von der Denkfabrik International Centre for Defence and Security in Tallinn in Estland, sagt, bislang habe die NATO sich auf eher kleine Truppen verlassen, zusammengesetzt aus den einzelnen Armeen des Bündnisses.
Laut Jens Stoltenberg sind im Moment rund 40.000 Männer und Frauen unter NATO-Befehl in Europa stationiert, vor allem an der Ostflanke, etwa im Baltikum und in Polen. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine seien außerdem Hunderttausende Militärs in Europa bereit einzugreifen, falls nötig, fügte er am Mittwoch in Brüssel hinzu.
"Weil die Sicherheitslage so viel schlechter ist als noch vor einigen Monaten, muss sich die NATO sehr ernsthaft damit auseinandersetzen, ob die Art der Abschreckung wie bisher noch zeitgemäß ist", erklärt Tony Lawrence im Gespräch mit der DW.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sendet am Mittwoch in Brüssel auf jeden Fall ein Zeichen, dass dem nicht so sein wird. Die NATO stehe vor einer neuen Realität, sagt Stoltenberg. "Wir müssen unsere kollektive Verteidigung und Abschreckung langfristig neu ausrichten."
NATO-Russland-Grundakte kein Hindernis?
An Land würde das wesentlich mehr Truppen an der Ostflanke der Allianz bedeuten. Mit besserer Ausrüstung und schnellerer Einsatzbereitschaft, auf dem Wasser mehr Kriegsschiffe, in der Luft eine stärkere Luft- und Raketenabwehr.
Denn Luftabwehr sei es, woran es im Moment vor allem mangele im Osten der Nato, sagt Tony Lawrence vom International Centre for Defence and Security. "Der Krieg in der Ukraine zeigt uns gerade, wie wichtig Verteidigung in der Luft ist."
Laut Linas Kojala vom Thinktank Eastern Europe Studies Centre in Vilnius spielt es in diesem Zusammenhang auch eine Rolle, dass die Ostgrenze der NATO noch verwundbarer geworden sei.
"Belarus ist inzwischen ein erweiterter Arm des russischen Militärs, kein unabhängiges Land", sagt Kojala. Vor allem, weil das Land, den Russen erlaube, Raketen von ihrem Territorium abzuschießen.
Wie viele Truppen in der Zukunft unter NATO-Befehl in Europa stationiert werden könnten und wann genau, darauf geht Stoltenberg nicht ein, aber er macht klar, dass man die NATO-Russland-Grundakte nicht als "Hindernis" sehe.
Die 1997 unterzeichnete Erklärung der NATO und Russlands besagt, dass die NATO nicht dauerhaft Truppen in bedeutender Größe an der Grenze zu Russland stationieren darf.