NATO-Gipfel vom Streit über Afghanistan-Abzug belastet
21. Mai 2012Die Hoffnung der Gastgeber auf einen Gipfel der Harmonie scheint vergebens zu sein. Am ersten Tag des größten Gipfeltreffens in der 63-jährigen Geschichte der NATO warf die Debatte über den Truppenabzug aus Afghanistan lange Schatten über das Treffen in Chicago. Die für den Auftakttag angesetzten Beratungen über den geplanten Startschuss für milliardenschwere Rüstungsprojekte und greifbare Fortschritte auf dem Weg zu einer gemeinsamen Raketenabwehr rückten am Sonntag erst einmal in den Hintergrund. Zum 25. Gipfel der Militärallianz sind neben den Staats- und Regierungschefs der 28 NATO-Staaten auch mehr als 30 Spitzenvertreter anderer Länder und internationaler Organisationen angereist.
Auslöser der Afghanistan-Debatte war die Ankündigung des neuen französischen Präsidenten François Hollande, dass er die 3.000 französischen Soldaten schon bis Ende dieses Jahres abziehen werde - zwei Jahre vor dem beschlossenen Auslaufen des ISAF-Truppeneinsatzes. Hollande bekräftigte damit ein Versprechen aus dem Wahlkampf. Er bot zugleich an, auf "anderem Wege" am Hindukusch auszuhelfen. In der NATO gilt normalerweise für Kampfeinsätze: "Gemeinsam rein, gemeinsam raus." Militärs und Diplomaten befürchten, dass dem Beispiel Frankreichs andere Truppensteller folgen könnten.
Deutliche Kritik aus Berlin
Zwischen den Zeilen ließ Bundeskanzlerin Angela Merkel Unverständnis durchblicken. "Wir sind gemeinsam nach Afghanistan gegangen, und wir wollen auch gemeinsam aus Afghanistan wieder abziehen", sagte Merkel. Deutlicher wurde Außenminister Guido Westerwelle: "Ein Abzugswettlauf gießt nur Wasser auf die Mühlen derer, die Unsicherheit säen wollen", warnte er. Sollte es dazu kommen, würde das den Kampf gegen Terrorismus schwächen.
Auch der Gastgeber, US-Präsident Barack Obama, schwor die Verbündeten auf eine gemeinsame Fortsetzung des Einsatzes ein. "Genau so, wie wir zusammen Opfer gebracht haben, werden wir jetzt auch entschlossen zusammenstehen, um diese Mission zu vollenden", sagte er zu Beginn des Gipfels. Bis 2014 lägen noch "harte Tage und viel Arbeit" vor den NATO-geführten ISAF-Truppen. Die USA sind mit rund 90.000 Soldaten der mit Abstand größte Truppensteller am Hindukusch.
NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen war sichtlich bemüht, den französischen Plan herunterzuspielen: "Es gibt keinen Sturm Richtung Ausgang. Ich bin nicht überrascht, dass der neu gewählte Präsident Hollande sein Wahlversprechen halten will." Durch den Alleingang Frankreichs werde der Afghanistan-Fahrplan nicht gefährdet. Merkel und Rasmussen stellten klar, dass die Allianz trotz der französischen Initiative an ihrem Zeitplan für den Abzug bis Ende 2014 festhält.
Enge Zusammenarbeit bei Rüstungsprojekten beschlossen
In Chicago stellte die NATO derweil die erste Stufe ihrer europäischen Raketenabwehr offiziell in Dienst. Die Staats- und Regierungschefs der 28 Mitgliedsstaaten erklärten, das System sei teilweise einsatzbereit, berichteten Diplomaten am Rande des Gipfels. Der Raketenabwehrschild soll bis 2020 vollständig stehen. Er ist gegen Bedrohungen beispielsweise aus dem Iran oder Nordkorea gerichtet. Russland hatte wenige Stunden vor dem Beschluss erneut vor diesem Schritt gewarnt. Vize-Verteidigungsminister Anatoli Antonow sagte in Moskau, die Raketenabwehr könne das strategische Gleichgewicht stören.
Zudem vereinbarten die Staats- und Regierungschefs der NATO eine besonders enge Kooperation bei mehr als 20 Projekten. Damit sollen angesichts knapper Verteidigungsbudgets militärische Fähigkeiten geschaffen werden, die für einzelne Staaten zu teuer sind. Zu den Projekten der sogenannten "Smart Defence" (Kluge Verteidigung) gehören beispielsweise ein System zur Bodenaufklärung durch unbemannte Flugkörper oder zur Betankung von Flugzeugen ebenso wie Einrichtungen zur medizinischen Versorgung von Soldaten.
Proteste von NATO-Kritikern
Begleitet wurde der zweitägige Gipfel von Protesten, bei denen NATO-Gegner mit der Polizei aneinandergerieten. Bereits in der Nacht zum Samstag waren nach Ausschreitungen 18 Demonstranten inhaftiert worden. Fünf Menschen wurden unter dem Vorwurf festgenommen, Brandanschläge geplant zu haben, darunter auf eine Wahlkampfzentrale Obamas. Am Sonntag zogen Tausende Aktivisten durch die Innenstadt, die teilweise abgeriegelt war. Das gemeinsame Motto der Protestgruppen mit Hunderten Plakaten und US-Flaggen:"«Sagt Nein zur Nato-Agenda von Krieg und Armut!" Während der mehrstündige Protestzug zunächst friedlich verlief, kam es nach dem offiziellen Ende der Aktion zu Zusammenstößen mit der Polizei. Es habe einige Festnahmen und mehrere Verletzte gegeben, meldeten lokale Medien.
kle/pg (dapd, rtr, dpa)