"Auf jede Bedrohung vorbereitet sein"
18. Februar 2017Deutsche Welle: General Pavel, Sie sind Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, der obersten militärischen Instanz der Allianz. Wie schätzen Sie die Kampfbereitschaft der NATO in Europa ein?
Sie wird besser, sie wächst. Wir blicken auf zwei Jahrzehnte der Partnerschaft ohne Konflikte, ohne größere Krisen - mit Ausnahme der weit entfernten Krise in Afghanistan - und Europa hat lange in einer friedlichen Umgebung gelebt. Leider hat sich dies im Jahr 2014 erheblich geändert. Seit dem Gipfel in Wales vergrößert die NATO die Bereitschaft der Truppen in all ihren Mitgliedsstaaten und auch die Mittel, die der Allianz gehören. Wir glauben, dass dies eine natürliche Reaktion auf die Situation in Europa ist, auf die Annexion der Krim durch Russland 2014. Wir sind uns unserer primären Aufgabe bewusst, nämlich das Territoriums und die Bevölkerung der Verbündeten zu sichern, darum müssen wir die Maßnahmen treffen, die der Sicherheitslage entsprechen.
Am Freitag sprach NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg davon, dass die Allianz versucht, die Situation mit Russland zu deeskalieren. Ist Russland heute eine geringere Gefahr als noch vor zwei Jahren?
Ich denke nicht. Es geht darum, wie wir die Bedrohung wahrnehmen. Eine Bedrohung ist immer eine Kombination aus Absicht und Fähigkeit. Wir sind nicht sicher, welche Absicht Russland hegt. Ich denke nicht, dass Russland die ernsthafte Absicht hat, die NATO anzugreifen - wir müssen realistisch bleiben. Aber es gibt bedeutende Fähigkeiten, militärische Aufrüstung und Modernisierung, die es für uns notwendig machen, auf jede Eventualität vorbereitet zu sein.
Natürlich hat Russland seine militärischen Mittel dazu genutzt, seine nationalen Interessen voranzutreiben. Russland spricht regelmäßig über den Schutz von Minderheiten, wo auch immer. Die baltischen Länder haben große russische Minderheiten. Deshalb sind diese Länder natürlich besorgt über die Aussagen der russischen Führung und über die Fähigkeiten des russischen Militärs. Wir müssen auf jede Bedrohung vorbereitet sein, auch auf eine potentielle. Deshalb müssen wir Russland als Quell der Sorge sehen.
Der britische Außenminister Boris Johnson hat gesagt, die NATO solle in Erwägung ziehen, bei einem Cyberkrieg Artikel 5 in Kraft zu setzen, also den Bündnisfall auszurufen und den Partnern militärisch beizustehen. Wie sehen Sie das?
Das ist kein neues Argument. Wir diskutieren die Cybersicherheit seit langer Zeit. Auf dem Gipfel in Warschau haben sich die Regierungschefs darauf geeinigt, Cyberkrieg als ein weiteres Operationsfeld anzuerkennen. Das bedeutet, dass sogar eine massive oder konzentrierte Cyberattacke als aggressiver Akt gewertet wird, der eine Reaktion nach Artikel 5 nach sich ziehen kann.
Wir müssen realistisch sein, was die zerstörerischen Effekte von Cyberkriegen betrifft. Er stört nicht nur Netzwerke, er ist nicht nur lästig. Ein Cyberangriff kann ebenso Todesopfer fordern wie ein konventioneller Angriff, etwa durch die Störung von digitalen Netzwerken der Verkehrskontrolle, in Krankenhäusern oder in der Luftfahrt. Dies kann eine große Zahl von Menschenleben kosten, deshalb müssen wir das ernst nehmen. Deshalb betrachten wir das als ein weiteres Operationsfeld und wir gehen die Herausforderungen an, die durch Cyberkriege auf uns zukommen.
Herausforderungen im Innern und von außen
Was ist ihrer Ansicht nach die größte Herausforderung, vor der die NATO steht?
Ich sehe das von zwei Seiten. Intern ist das die Geschwindigkeit der Veränderung. Das ist die Herausforderung, die wir breit diskutieren, seit der jetzige US-Präsident die NATO als "überflüssig" beziehungsweise nicht fit für ihren Zweck bezeichnet hat. Nach innen geht es also um das Tempo, die Geschwindigkeit und die Tiefe der Veränderung.
Nach außen ist die dringendste Herausforderung für die NATO der Terrorismus. Wir müssen mit Terrorismus auf eine effizientere Art und Weise umgehen. Dabei geht es nicht nur um die physische Seite, also die Zerstörung der Kampfkraft terroristischer Gruppen. Wir müssen auch den breiteren Rahmen von Terrorismus verstärkt angehen, die Brutstätten und die Umstände, unter denen Extremismus entsteht.
Wir haben solch einen breiten Rahmen in Warschau geschaffen, die sogenannte "Projecting Stability Initiative", mit der wir auf die Bedürfnisse der meisten Länder in unserer Nachbarschaft, die von Terrorismus betroffen sind, eingehen können. Wir können ihnen die Unterstützung geben, die sie brauchen, angefangen von Kampfkraft bis hin zu sehr weichen Instrumenten wie Ausbildung, Aufbau von Institutionen, Ausrüstung, Wissen und einem Austausch der Geheimdienste.
Petr Pavel ist Vorsitzender des NATO-Militärausschusses. Bis Mai 2015 war er Chef des Generalstabs der Tschechischen Armee.
Das Interview führte Lewis Sanders.