Native Americans kämpfen für ihr Wahlrecht
27. September 2020Wenn man eine der unbefestigten Straßen der Pine Ridge Reservation im US-Bundesstaat South Dakota entlangfährt, den Wagen anhält und aussteigt, dann hört man - Stille. Vielleicht zwitschert ein Vogel und der Wind pfeift durch das goldene Präriegras. Die Szene ist so besinnlich, dass es sich fast anfühlt, als sei man nicht auf dieser Welt.
Aber das Reservat des Oglala-Lakota-Stammes hat sehr reale, diesseitige Probleme. Die Arbeitslosenquote der rund 20.000 in Pine Ridge lebenden Menschen liegt bei 85 bis 97 Prozent, je nach Statistik. Oglala Lakota County, der Landkreis, in dem der Großteil des Reservates liegt, hat das niedrigste Pro-Kopf-Einkommen in den USA - etwa 90 Prozent der Bewohner leben unterhalb der Armutsgrenze.
Und viele von ihnen gehen nicht wählen. Nach Angaben des National Congress of American Indians liegt die Wahlbeteiligung fünf bis 14 Prozentpunkte unter der anderer ethnischer Gruppen in den USA. Und es sieht nicht so aus, als werde sich das ändern.
"Ich sehe die Zahl der Wählerregistrierungen bei Native Americans in South Dakota seit 2004 nach unten gehen", sagt Kellen Returns From Scout, ein Aktivist des Standing-Rock-Sioux-Stammes. In den USA müssen sich Bürger selbst darum kümmern, in das Wählerregister eingetragen zu werden, bevor sie ihre Stimme abgeben können. "Da gab es einen 60- bis 70-prozentigen Rückgang."
Um diese Entwicklung umzukehren, hat Returns From Scout eine Wählerinitiative zum Schutz der Selbstbestimmung gegründet. Beim Nominierungsparteitag der Demokraten im August gab er die Voten der Delegierten aus South Dakota bekannt, und während der Übertragung im Fernsehen trug er ein T-Shirt mit der Aufschrift "Schützt die Selbstbestimmung" ("Protect Sovereignty"). Danach bekam er eine Menge Anrufe von Leuten, die wissen wollten, was das für ein Projekt sei und wie sie es unterstützen könnten. Returns From Scout und seine Mitstreiterin, die Lakota-Aktivistin Cante Heart, waren völlig überrascht - zu diesem Zeitpunkt gab es nicht mehr als den Slogan. Aber der Enthusiasmus ermutigte sie und sie fingen an zu arbeiten.
"Wählen soll zu einer neuen Stammestradition werden"
Einen Monat später haben sie in Rapid City, der nächstgelegenen Stadt, ihr halbes Büro voller Material: Drucker, um die Formulare für die Wählerregistrierung auszudrucken, Mobiltelefone für Freiwillige und mehr Handdesinfektionsmittel als der Laden an der Ecke üblicherweise vorrätig hat. Vieles davon haben Returns From Scout, Heart und ein paar Helfer bereits eingesetzt und ein paar hundert Wähler im Reservat registriert.
"Wir möchten das Wählen zu einer neuen Tradition für unsere Stammesmitglieder machen, denn der beste Weg, unsere Selbstbestimmung zu schützen, ist wählen zu gehen", erklärt Heart. "Selbstbestimmung heißt, sich selber zu regieren. Aber dafür müssen wir Politiker ins Amt wählen, die uns anerkennen und mit uns arbeiten wollen."
Und das ist nicht die Trump-Regierung, wie beide Aktivisten betonen. "Wir haben so hart gearbeitet, um gute Beziehungen zwischen Native Americans und Nicht-Natives aufzubauen - und Trump hat das alles zerstört. Seine Wahl hat das Land gespalten bis zu dem Punkt, an dem wir nicht mal mehr Nachbarn sein können", sagt Returns From Scout in seinem Büro vor den Wahlkampfplakaten für den Demokraten Joe Biden.
Touristen sehen traditionelle Tänze - und sonst wenig
Um dennoch Verbindungen aufzubauen und Respekt für Stammesgemeinschaften zu fördern, tritt Cante Heart als Tänzerin auf. Sie tanzt regelmäßig am Monument für Crazy Horse, den berühmten Oglala-Lakota-Stammesführer, das in South Dakota viele Touristen anzieht. An einem heißen, sonnigen Tag tritt sie auf die kleine Freiluftbühne des Crazy Horse Welcome Center, ihr Haar zu zwei Zöpfen geflochten und ihr Kleid mit Verzierungen aus Metall geschmückt. Heart ist ein Jingle Dancer, eine klingelnde Tänzerin, weil ihr Gewand bei jeder Bewegung Geräusche macht.
Ihr Vater schlägt die Trommel und Cante Heart tanzt, erst auf der Bühne und später rund um das kleine Gelände, wo das rein weiße Publikum ihr gebannt zuschaut. Zwischen den Tänzen berichtet sie vom Kampf der Native Americans und darüber, wie ihnen ihr Land gestohlen wurde. "Ich trete gern auf und erzähle den Menschen etwas über meine Kultur", sagt sie. "Es ist meine Pflicht, ihnen zu erklären, dass es immer noch Native Americans gibt und dass wir für unsere Rechte kämpfen."
Die Pine Ridge Reservation - ein Entwicklungsland
Allerdings werden die meisten anwesenden Touristen vom Leben der Native Americans nur Cante Hearts Vorführung wahrnehmen, das traditionelle Bild ihres klingelnden Kleides. Sie werden nicht die verfallenen Wohnwagen mit den rostenden Autos davor sehen, die die Hügel der Pine Ridge Reservation sprenkeln.
Sie werden auch die Schilder nicht sehen, die jeden, der ins winzige Örtchen Pine Ridge fährt, daran erinnern, die Abstandsregeln einzuhalten und eine Maske zu tragen, "wenn dir dein Leben lieb ist". Das Reservat ist ein COVID-19-Hotspot, und aufgrund der dürftigen medizinischen Versorgung, eines oft vorbelasteten Gesundheitszustandes und vieler anderer schlechter Bedingungen sterben Native Americans wesentlich häufiger als weiße Amerikaner an der Krankheit. Daran haben auch die Checkpoints nicht geändert, die an den Zufahrtsstraßen all jene zur Umkehr zwingen, die keine Bewohner oder wichtige Mitarbeiter sind.
"Wir leben hier wie in einem Entwicklungsland", sagt Julie Richards durchs offene Autofenster in der Pine-Ridge-Siedlung. Sie räumt ein, dass sie nie wählen gegangen ist, weil das in ihren Augen für die Leute in Pine Ridge nie etwas geändert hat, egal unter welchem Politiker. Dieses Jahr ist das anders: "Wir müssen wählen, um Trump aus dem Amt zu jagen!"
Willkür bei der Wählerregistrierung
Es sollten mehr Leute wie Richards denken und im November an die Urnen gehen, findet Returns From Scout. Aber zunächst müssen sie sich ja registrieren lassen - und dabei will ihnen seine Initiative helfen. Und das ist mühsam. Zurück in seinem Büro in Rapid City, nimmt er ein Formular und erklärt die Fallstricke beim Ausfüllen.
Zunächst mal braucht man eine feste Adresse mit einem ordentlichen Straßennamen - die haben viele Bewohner des Reservates schon mal nicht. Man kann zwar ein Postfach angeben, aber man muss dann erklären, wo man genau wohnt. Ein Einheimischer hat geschrieben, sie lebten ein paar Meilen entfernt von "Chattering Junction". Im Reservat wissen alle, wo das ist - aber wird der Prüfer das akzeptieren?
Manche machen auch Fehler beim Ausfüllen und korrigieren sie auf dem Formular - das sind Kleinigkeiten, aber Returns From Scout ist ziemlich sicher, dass sie einen Ablehnungsgrund darstellen, denn die Prüfer entscheiden nach eigenem Ermessen über die Zulassung. "Die Formulare werden an weiße Mitarbeiter geschickt, die keine gute Beziehung zum Reservat haben", sagt er. "Das lässt viel Raum für Auslegung."
Diese Willkür erinnert an die Versuche, afroamerikanische Wähler von den Urnen fernzuhalten, vor allem während der Bürgerrechtsbewegung in den 1950er und 1960er Jahren. Auf die Frage, wie sich die Möglichkeiten der Wahlregistrierung für Angehörige von Minderheiten seitdem verändert haben, antwortet Returns From Scout knapp: "Sie sind wesentlich schlechter geworden."
"Die wollen uns hier nicht"
Von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen zu sein, ist nicht nur ein Problem für Bewohner des Reservates, die mit der Wählerregistrierung kämpfen. Überall in den USA sind Native Americans damit konfrontiert.
"Native Americans sitzen nicht im Stadtrat, sie werden nicht in die Schulaufsicht gewählt", erklärt Returns From Scout. "Wir haben die gleichen Abschlüsse wie Nicht-Natives, wir haben die gleichen Hochschulen besucht - aber sie lassen und immer noch nicht rein. Das sind Leute, die wollen uns hier nicht." Und das trotz der Tatsache, dass die Lakota hier lange vor den Weißen waren.
Adaption: Beate Hinrichs