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Nagasaki - der Mythos der entscheidenden Bombe

Martin Muno9. August 2015

Der zweite Atombombenabwurf auf eine japanische Stadt galt jahrzehntelang als das Ereignis, das den zweiten Weltkrieg beendete. In seinem Buch "Nagasaki" entlarvt Klaus Scherer das als nützlichen Mythos.

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Transport der Atombombe 'Fat Man'
Bild: picture alliance/akg-images

Der Tod ist oft grausam. Er kann aber auch zynisch sein. Am 9. August 1945 wurden zehntausende Menschen in der japanischen Küstenstadt Nagasaki getötet. Sie verdampften oder verbrannten binnen Sekunden, sie wurden von Glassplittern durchbohrt oder von Trümmerteilen erschlagen. Oder sie wurden verstrahlt und starben einen langsamen Tod - manchmal erst nach Jahrzehnten des Leidens.

Dabei sollte die zweite Atombombe, die auf eine Stadt abgeworfen wurde, ursprünglich nicht auf Nagasaki niedergehen und schon gar nicht direkt über einer christlichen Kirche. Eigentlich wählten die US-Militärs die Stadt Kokura als Ziel aus, die aber unter einer dichten Wolkenschicht lag. Am Ende benötigte die Besatzung des US-amerikanischen Bombers drei Anflüge, um die Bombe abzuwerfen. Mit fast leerem Tank flogen sie danach zur nächstgelegenen US-Basis. "Alles, was wir noch wollten, war, dieses Ding loszuwerden", sagt der letzte Überlebende der Bomberbesatzung, der weit über 90 Jahre alte William Barney. Dem "Ding" fielen 70.000 Menschen sofort zum Opfer - ausgerechnet in der weltoffensten Stadt Japans, die das Pech hatte, dass dort an jenem 9. August gutes Wetter herrschte.

Klaus Scherer (Foto: NDR )
Klaus SchererBild: NDR/Klaus Westermann

Barney ist einer von zahlreichen Zeitzeugen, Militärs und Historikern, die der mehrfach mit Preisen ausgezeichnete Reporter Klaus Scherer für sein Buch "Nagasaki - der Mythos der entscheidenden Bombe" interviewte. Beklemmend werden die Interviews vor allem dann, wenn die Überlebenden von dem Tag berichten, der ihr Leben dauerhaft veränderte. Die 86-jährige Chieko Ryu schildert weinend, wie sie den zu Asche verglühten Leichnam ihrer Mutter nur anhand einer angeschmorten Haarspange aus Schildplatt erkannte. "Ich fasste kurz an ihren Fuß", erzählte sie. "Aber er ist sofort zerfallen, wie trockener Sand." Wie Chieko Ryu erlebten auch die anderen noch lebenden Zeitzeugen die Zeit unmittelbar nach der Explosion als apokalyptischen Alptraum. Viele Überlebende, so schildert etwa Sakue Shimohira, hätten das nicht ertragen und Suizid begangen.

Würdigung der Opfer - Dekonstruktion des Mythos

Die überlebenden Opfer zu Wort kommen lassen, ihnen nochmals Sprache und Würde zu geben, ist ein großes Thema in Scherers brillantem Buch. Das noch wichtigere Thema ist aber die Dekonstruktion eines Mythos: der Legende, die beiden Bomben seien notwendig gewesen, um den Zweiten Weltkrieg zu beenden.

Klaus Scherer, der als Korrespondent viele Jahre in Japan und den USA lebte, widerlegt diese Argumentation - und zeigt darüber hinaus, dass sie erst ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkrieges an Definitionsmacht gewann. In US-Archiven entdeckt er zwei United-News-Wochenschauen zum Kriegsende 1945 und zum 1. Jahrestag 1946, die das zweifelsfrei belegen. Im Jahr 1945 hieß es, schon vor der Zerstörung Hiroshimas und Nagasakis sei Japan demoralisiert und militärisch am Ende gewesen. Konventionelle Bomben hätten bereits 66 Städte in Schutt und Asche gelegt. Gezeigt werden völlig zerstörte Städte, Schiffswracks, Industrieruinen. "Am Ende des Berichts", schreibt Scherer, "erlaubt sich dieser Erfolgsbericht den erstaunlichen Satz: 'Szenen wie diese lassen keinen Zweifel daran, dass Japan schon vor der Atombombe durchgehend geschlagen war.'"

Was ist 1946 anders als 1945?

Ein Jahr später ist die Tonlage eine völlig andere. Die Bilder zeigen "in Reihen marschierende japanische Truppen, blanke Geschütze in langen Reihen, ebenso wie kampffertig bereitstehende Flugzeuge und Amphibienpanzer". Die erste Atombombe habe "die Japse" lediglich "sprachlos" gemacht, hieß es in der Wochenschau. Die Wende sei erst mit der Bombe auf Nagasaki gekommen. "Das war der finale Schlag. Sie kapitulierten", hieß es. "Innerhalb eines Jahres drehte sich die tatsächliche oder vorgegebene Wahrnehmung des Kriegsendes komplett in ihr Gegenteil", bilanziert Scherer. "Die Atombombe als Wunderwaffe, technisch beeindruckend, strategisch zwingend und moralisch geboten. So sollte es die Welt fortan sehen."

Was im Vergleich der beiden Wochenschauen anschaulich wird, setzt sich auch in der Geschichtswissenschaft zunehmend als Mehrheitsmeinung durch: Weder die Bombe auf Hiroshima noch die auf Nagasaki waren notwendig, um den Krieg zu beenden. Entscheidender Wendepunkt war die Kriegserklärung der zuvor neutralen Sowjetunion gegen Japan. Warum wurden dann aber beide Bomben eingesetzt und warum wurde ihr Einsatz sowohl von amerikanischer als auch japanischer Seite als kriegsentscheidend eingestuft?

Hier liefert Scherer mehrere Antworten: Ein Kriegs-Einsatz lieferte den beteiligten Wissenschaftlern bedeutend tiefere Erkenntnisse über die Wirkung der Bombe als ein Test in der Wüste. Und da beide Bomben verschiedener Bauart waren - die erste war eine Uran-, die zweite eine Plutoniumbombe - mussten auch beide eingesetzt werden. Ein Menschenversuch also. Außerdem wollte US-Präsident Harry S. Truman angesichts der zunehmenden Kriegsmüdigkeit in den USA eine blutige und zeitraubende Invasion Japans mit Bodentruppen unter allen Umständen vermeiden, sich aber zugleich für die Niederlage von Pearl Harbour rächen. Und: Der Einsatz war eine Machtdemonstration gegenüber der Sowjetunion - genau zu dem Zeitpunkt, an dem die Anti-Hitler-Koalition zu bröckeln begann und sich der Beginn des Kalten Krieges abzeichnete. Oder wie es der damalige Ex-Kriegsminister Henry Stimson 1947 zynisch zusammenfasste: "Wir hatten keine Bomben zu verschwenden."

Bequeme Lesart - für die Täter

Aber warum hat Japan diese Lesart unterstützt? Dazu zitiert Scherer den US-Friedensforscher Ward Wilson mit einer verblüffend einfachen Antwort: Es sei bequem gewesen - zumindest für die Täter. Der Mythos der Wunderwaffe habe den Japanern eine schmerzhafte Aufarbeitung des Krieges erspart. Wenn man sich in die Lage von Kaiser Hirohito oder eines anderen ranghohen japanischen Politikers oder Militärs versetze, die ihr Land gerade durch einen katastrophalen Krieg geführt haben, werde die Sache klar. "Die Wirtschaft liegt in Trümmern. Achtzig Prozent der Städte sind zerbombt und niedergebrannt. Das Volk hungert. Was würden sie eher tun? Zugeben, dass sie eine ganze Reihe schwerer Fehler begangen haben? Oder die Niederlage einem (...) wissenschaftlichen Durchbruch des Gegners zuschreiben, mit dem keiner habe rechnen können."

Das sehen die Bombenopfer ganz klar: "Wir sind Opfer zweier Täter", sagen sie. Und Sakue Shimohira machte ihr eigenes Überleben zur politischen Aussage: "Ich habe mich zwischen dem Mut zu sterben und dem Mut weiterzuleben entscheiden zu müssen", sagte sie. "So ist es meine Aufgabe geworden, von der Welt ein Versprechen einzufordern. Ich möchte ihr abringen, dass wir für immer die letzten Atombombenopfer bleiben."

Klaus Scherer: Nagasaki - Der Mythos der entscheidenden Bombe, Hanser Verlag, 254 Seiten