Nadelstiche legen Deutschland lahm
17. Oktober 2014Mitten in der Herbstferienzeit bringt die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) die Reisepläne etlicher Bahnkunden durcheinander. Die GDL rief das Zugpersonal der Deutschen Bahn am Freitag für das gesamte Wochenende zu einem 50-stündigen Streik im Fern- und Regionalverkehr auf. Der Konzern warf der Gewerkschaft vor, "Amok" zu laufen und Millionen von Menschen "nur wegen Machtgelüsten" die Ferien zu verderben.
Die GDL ist, genauso wie die Pilotenvereinigung Cockpit oder die Ärztevertretung Marburger Bund, eine so genannte Spartengewerkschaft, die zwar eine zahlenmäßig kleine Gruppe von Arbeitnehmern vertritt, mit ihren Streiks aber die halbe Republik lahm legen kann. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich die großen, im Deutschen Gewerkschaftsbund zusammengeschlossenen Gewerkschaften in ihrer Satzung das Prinzip "ein Betrieb, eine Gewerkschaft" zu eigen gemacht. Das war eine Lehre aus der Nazizeit, als die hoffnungslos zersplitterten Sparten- und Gesinnungsgewerkschaften von den braunen Machthabern recht schnell zerschlagen werden konnten.
Ein Betrieb, eine Gewerkschaft
Auch die Arbeitgeber konnten mit diesem Prinzip gut leben, weil sie jeweils nur mit einer Gewerkschaft Tarifverhandlungen führen mussten. In Artikel Neun des deutschen Grundgesetzes steht jedoch im Absatz Eins: "Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden." Darauf berufen sich die kleinen Spartengewerkschaften. Sie argumentieren, dass ihre Mitglieder hohen physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt sind und sie große Verantwortung tragen.
Speziell Lokführer sind belastet durch die hohe Zahl von Selbstmorden (im Schnitt drei am Tag) auf den Schienen, die zu posttraumatischen Belastungsstörungen führen können. Diese Berufsgruppe fühlt sich - genauso wie die Piloten oder die Ärzte in einer der Branchengewerkschaften nicht ausreichend vertreten. Zwei Urteile des Bundesarbeitsgerichts haben im Jahr 2010 dazu geführt, dass die bis dahin geübte Praxis der Tarifeinheit löchrig wurde, und seitdem machen die kleinen Spartengewerkschaften mit ihren Nadelstichen immer wieder von sich Reden.
Öffentliches Ärgernis
Streiks dieser kleinen Berufsgruppen werden regelmäßig zum öffentlichen Ärgernis, weil sie enorme wirtschaftliche Schäden anrichten. Zwar hat das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung in Essen herausgefunden, dass die neuen Spartengewerkschaften keine messbaren Spuren bei den Streikaktivitäten in Deutschland hinterlassen haben - das gilt aber nur für die absolute Zahl der Streiktage. In der öffentlichen Wahrnehmung haben diese Streiks jedoch wegen ihrer verheerenden Wirkung auf das öffentliche Leben enorm zugelegt.
Arbeitgeber sprechen von Machtspielen und Erpressung, und deshalb will Arbeitsministerin Andrea Nahles noch im November einen neuen Gesetzentwurf in den Bundestag einbringen, der die Tarifeinheit festschreiben soll, damit Spartengewerkschaften und tariffähige Berufsverbände domestiziert werden können. Die Spartengewerkschaften sehen dem allerdings gelassen entgegen. Denn in Artikel Neun, Absatz Drei, des Grundgesetzes heißt es weiter: "Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig."
Kaum verfassungskonform
Mit anderen Worten: Ein Gesetz, dass das Streikrecht kleinerer Gewerkschaften aushebeln will, wird vor dem Bundesverfassungsgericht kaum Bestand haben, glauben die Juristen der Ärzte, Piloten und Lokführer. Andererseits: Tritt erst einmal so ein Gesetz in Kraft, werden die kleinen Spartengewerkschaften auf lange Zeit nichts mehr für ihre Mitglieder tun können, denn ein Urteil beim Bundesverfassungsgericht kann Jahre dauern. Das erklärt auch, warum die kleinen Gewerkschaften im Moment so einen Krawall machen.
In sieben Bundesländern beginnen am Wochenende die Herbstferien; in vier weiteren gehen sie zu Ende oder dauern weiter an. Doch an Reisen mit der Deutschen Bahn wird kaum zu denken sein: Die Personenzüge sollen ab Samstagmorgen um 2.00 Uhr bis Montagmorgen um 4.00 Uhr bundesweit stillstehen, wie die GDL am Freitag in Frankfurt am Main mitteilte. Der Güterverkehr sollte schon ab Freitagnachmittag bestreikt werden. Die Gewerkschaft sei bei inhaltlichen Verhandlungen auch zu Zugeständnissen bereit, erklärte GDL-Chef Claus Weselsky. Die Bahn müsse aber ihre "Wunschträume nach Tarifeinheit" aufgeben. Die Gewerkschaft fordert fünf Prozent mehr Lohn, weniger Überstunden und eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit um zwei Stunden.