"Koalition der Affekthandlung"
11. Dezember 2014DW: Vor wenigen Wochen war die fremdenfeindliche "Pegida" (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) noch eine kleine Facebook-Gruppe; am vergangenen Montag hat sie in Dresden 10.000 Menschen mobilisiert. Wie lässt sich das erklären?
Oliver Nachtwey: Es gibt zwei Erklärungsmuster, die sich ergänzen. Das erste ist, dass es einen neuen antimuslimischen Rassismus der Mitte gibt, der mit der Sorge um abendländische Werte begründet wird. Das ist das Produkt einer nervösen Gesellschaft, in der Aufstieg immer weniger möglich ist und in der man das Gefühl hat, überall herrsche Kampf und Wettbewerb. Die Affekte, die das erzeugt, werden oft nicht auf ein System, sondern auf das Andere, das Fremde gelenkt. Das wird auch aus der Politik lanciert und von unten aufgenommen. Erst vergangene Woche hat die CSU vorgeschlagen, dass Ausländer zuhause deutsch sprechen sollten. Die zweite Erklärung ist, dass die Parteien und die großen Organisationen die Bevölkerung nicht mehr wirklich repräsentieren. Weil Kanäle zur Artikulation von Ängsten verloren gegangen sind, poppen Protestbewegungen von unten auf, die mal linker sind, wie Occupy, mal seltsamer und verschwörungstheoretischer, wie die Montags-Mahnwachen, und nun rechter, wie die Pegida-Bewegung.
Welche Kanäle zur Artikulation von Ängsten sind verlorengegangen?
Wo sind zum Beispiel noch die großen Unterschiede zwischen den großen Volksparteien bezüglich des Euro? Selbst beim Mindestlohn ist man sich einig. Parteien waren ursprünglich dazu da, die großen Streitlinien der Gesellschaft von rechts bis links zu organisieren und - indem man sie in parlamentarische Kanäle gebracht hat - auch zu domestizieren, zu zivilisieren. Aber inzwischen leisten die Parteien das nicht mehr.
Ist das nicht einfach Ausdruck davon, dass sich bestimmte Milieus aufgelöst haben und die Gesellschaft weniger polarisiert ist?
Das stimmt zum Teil. Die klassischen Milieus, das Milieu der Arbeiterklasse, das Milieu der Mittelschicht und die konfessionellen Unterscheidungen existieren in dieser Form nicht mehr. Die Parteien reflektieren das auch: Gerade in den Parteiapparaten existieren relativ homogene soziale Milieus. Wenn Sie sich deren Mittelbau anschauen, finden Sie dort in der Regel Kinder aus Mittelklasse-Haushalten, die studiert haben und in der Politik einen gewissen sozialen Aufstieg suchen. Allerdings, und deshalb stimmt Ihr Argument nur zum Teil, werden seit Anfang der neunziger Jahre die Ungleichheiten in der deutschen Gesellschaft wieder größer - es entsteht wieder so etwas wie eine neue Unterklasse. Während diese Zentrifugalkräfte teilweise stärker werden, orientieren sich die Parteien immer stärker zur Mitte.
Wer wird von Pegida angezogen?
Leider steht die soziologische Untersuchung noch aus. Mir scheint das im Wesentlichen ein Bürgerbündnis zu sein, eine Koalition zwischen unterer Mittelklasse und Facharbeitern, aber auch oberer Mittelklasse. Dass diese Koalition der Affekthandlung aus der Mittelklasse kommt, hat damit zu tun, dass auch die Ressentiments von dort kommen. Die Langzeitbeobachtungen des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer zeigen, dass vor allem in der bürgerlichen Mitte Ressentiments gegenüber Minderheiten zugenommen haben.
Hat Pegida das Potenzial, zu einer bundesweiten Bewegung zu werden?
Was wir in Dresden sehen, ist nur der spektakulärste Ausdruck einer Bewegung, die sich bereits an verschiedenen Orten gebildet hat. Gerade in Nordrhein-Westfalen gibt es verschiedene Bürgerbewegungen, die sich gegen den Islam richten. Was bislang nicht existiert, ist eine parteipolitische Verdichtung, weil man als Bürger die NPD und die Nazis dann doch zu plebejisch findet - dahin will man nicht. Man will Teil des Establishments bleiben, indem man sagt: Wir sind Europäer, wir sind eigentlich pazifistisch. Man schielt eher von rechts heraus auf die Mitte des politischen Systems. Deshalb ist die Gefahr groß, dass Parteien sich darauf beziehen. Erst gestern hat Bernd Lucke, der Vorsitzende der AfD, in einem Facebook-Eintrag die Pegida-Bewegung begrüßt. Lucke gehört dem Flügel der AfD an, der sich betont bürgerlich, aufgeklärt und liberal gegeben hat. Insofern besteht die Gefahr, dass die Partei als Ganzes auf den antimuslimischen Rassismus aufsattelt.
Wie soll die Gesellschaft mit "Pegida" umgehen?
Die Dresdner haben es doch vorgemacht. Sie haben das Problem erst etwas verschlafen, aber am Montag standen den 10.000 Pegida-Demonstranten 10.000 Gegendemonstranten gegenüber. Man darf nicht vergessen, dass Dresden ein besonderer Ort ist: Dresden war die letzte Dekade über der Ort des jeweils größten Neonazi-Aufmarsches in Europa. Aber die Zivilgesellschaft hat es in den letzten fünf Jahren geschafft, diese Aufmärsche systematisch durch sehr breite, mit zivilem Ungehorsam verbundene Demonstrationen zu blockieren. Dieses Jahr hat der Neonazi-Aufmarsch in Dresden erstmals nicht mehr stattgefunden.
Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) hat zum Dialog mit den Anhängern der "Pegida"-Demonstrationen aufgerufen. Was halten Sie davon?
Ich finde es schwierig, mit Menschen einen Dialog zu suchen, die von Ressentiments getragen werden. Man müsste sich den Argumenten, die dort vorgebracht werden, stellen und öffentlich kritisieren, also eine Aufklärungskampagne betreiben. Aber ich halte es für falsch, "Pegida" aufzuwerten indem man sagt: Wir suchen das Gespräch. Wenn man sich überlegt, dass "Pegida" von einem kriminellen, gescheiterten Parvenü angeführt wird, muss man sich die Frage stellen, welche Gefahr eigentlich in dieser Gesellschaft steckt, in der Ressentiments so einfach bis in die Mitte der Gesellschaft mobilisiert werden können. Das Mittel der Zivilgesellschaft muss also ein Doppeltes sein: Die aktive Blockade, die aktive Konfrontation dieser Aufmärsche und ein öffentlicher Diskurs, der viel stärker die Ressentiments gegenüber dem Islam angeht und diese nicht weiter toleriert.
Oliver Nachtwey ist Soziologe an der TU Darmstadt und Experte für Soziale Bewegungen. Im März erscheint im Suhrkamp-Verlag sein Buch "Abstiegsgesellschaft", in dem es um den Zusammenhang zwischen wachsender Ungleichheit und sozialen Konflikten geht.