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PolitikEuropa

Nach Rücktritt: Kritiker fordern Frontex-Reform

Barbara Wesel
29. April 2022

Nach dem Rücktritt von Frontex-Direktor Fabrice Leggeri fordern Kritiker mehr Aufsicht. Nach einer Serie von Skandalen um verbotene Pushbacks von Migranten stehe die Integrität der EU-Grenzagentur ernsthaft in Frage.

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Griechenland: Migranten im Schlauchboot erreichen die Küste der Insel Lesbos
Migranten erreichen 2020 Lesbos - Viele andere hat der Versuch, über das Mittelmeer zu fahren, das Leben gekostetBild: picture-alliance/dpa/AP/M. Varaklas

Im Mai vorigen Jahres verklagten Menschenrechtsanwälte die EU-Grenzagentur Frontex vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Sie brachten einen Beispielfall vor Gericht: Eine Frau aus Burundi und ein Teenager aus dem Kongo waren mit anderen Migranten auf der Insel Lesbos gelandet. Dort seien sie von der griechischen Küstenwache ausgeraubt, geschlagen und mit Rettungsflößen zurück auf See gezwungen worden. Die Grenzagentur Frontex habe Griechenland bei diesem und ähnlichen Vorfällen gewähren lassen oder sie sogar unterstützt, so der Vorwurf.

Tödliche Puchbacks mit Frontex-Hilfe?

Frontex ist die größte EU-Agentur und Fabrice Leggeri war seit 2015 ihr Chef, nun ist er zurückgetreten. In den vergangenen Jahren ist die Behörde enorm gewachsen: Der Etat vervielfältigte sich auf eine Dreiviertelmilliarde Euro für 2022, die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter soll auf rund 10.000 steigen. Allerdings war die Amtsführung des Behördenchefs begleitet von zahllosen Vorwürfen von Menschenrechtsaktivisten, Europaabgeordneten und Journalisten und wurde zu einem einzigen PR-Desaster.

Brüssel EU-Frontex-Chef Fabrice Leggeri
Fabrice Leggeri ist Frontex-Direktor seit 2015 - seine Amtszeit wurde von Vorwürfen gegen die Grenzschutzbehörde begleitet Bild: Reuters/F. Lenoir

So berichteten etwa internationale Medien, darunter "Der Spiegel", "Lighthouse Reports" und "Libération" im vergangenen Sommer über zahlreiche Fälle von sogenannten Pushbacks in der Ägäis: Ähnlich wie in dem genannten Fall habe die griechische Küstenwache dort immer wieder Flüchtlinge auf Rettungsfloße gezwungen und auf See ausgesetzt, um die Zahl der Ankommenden zu reduzieren. Frontex-Beamte sollen geholfen haben, indem sie die Flüchtlingsboote zunächst orteten und stoppten, hieß es. Diese Praxis ist nach europäischen und internationalen Regel verboten. Auch die BBC hatte einige solcher Fälle im Detail dokumentiert.

Endlose Kette von Skandalen

Die Besatzung des deutschen Rettungsschiffs Sea-Watch hat ähnliche Vorkommnisse beobachtet. So sei im April vorigen Jahres ein Boot mit rund 60 Flüchtlingen aus maltesischen Gewässern zurück gezwungen worden in den Zugriffsbereich der libyschen Küstenwache. Zwölf Menschen starben bei der Aktion, die Geretteten landeten in libyschen Lagern, die für Folter und Menschenrechtsverletzungen berüchtigt sind. Sea-Watch macht unter anderem Frontex für die Ereignisse verantwortlich.

Die Kette solcher und ähnlicher Vorwürfe ist endlos und immer lehnte Frontex jede Verantwortung für die Praktiken ab. Auch der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Filippo Grande, zeigte sich schließlich alarmiert über die "wiederkehrenden und übereinstimmenden Berichte von Pushbacks". Seine Behörde habe innerhalb von anderthalb Jahren 560 solcher Vorfälle registriert, sagte Filippo Grande bei seinem Besuch im Europaparlament im vorigen Jahr.

Grenzschutz vor Menschenrechten

Ebenfalls im Sommer 2021 erschien ein Bericht des Europaparlaments über die Praktiken bei Frontex. Die Grenzagentur habe Beweise dafür übersehen, dass Migranten illegal an den Grenzen der EU zurückgeschickt wurden, und sie damit weiteren Verletzungen ihrer Menschenrechte ausgesetzt, heißt es darin. Man habe zwar keine "zwingenden Beweise für die direkte Durchführung von Pushbacks oder die kollektive Abweisung von Flüchtlingen durch Frontex-Beamte gefunden". Allerdings habe die Agentur "Beweise für fundamentale Rechtsverstöße in Mitgliedsländern gehabt, mit denen sie gemeinsame Operationen betrieb und diese Vorwürfe weder schnell, noch gründlich untersucht". 

Ein Boot der griechischen Küstenwache mit Geflüchteten an Deck
Die griechische Küstenwache bei der Rettung von Flüchtlingen - ihr werden zahlreiche verbotene Pushbacks vorgeworfenBild: Guillaume Pinon/NurPhoto/picture alliance

Gleichzeitig liegt eine mehrjährige Untersuchung der EU-Antibetrugsbehörde OLAF vor, deren Ergebnisse allerdings noch nicht veröffentlicht wurden. Auch der EU-Rechnungshof kritisierte die Amtsführung bei Frontex. Die Arbeit der Behörde sei "weder effektiv noch angemessen, um illegale Migration und grenzüberschreitende Kriminalität zu bekämpfen". Es gebe keine Daten, unzulängliche Risikoabschätzungen und keine finanzielle Transparenz.

Der Fisch stinkt vom Kopf

Die niederländische Grünen-Abgeordnete Tineke Strik war Verfasserin des Parlaments-Reports über Frontex: "Es ist höchste Zeit für diesen Rücktritt, wir warten seit anderthalb Jahren darauf", sagte sie kürzlich. Die Hinweise darauf, dass Frontex als "Komplize bei den Pushbacks in Griechenland gehandelt habe, seien immer stärker geworden. Jetzt ist es wirklich Zeit für einen Kulturwechsel bei Frontex und dass Menschenrechte ernst genommen werden".

Strik hält auch die EU-Mitgliedsstaaten für schuldig, die Leggeri so lange gedeckt hätten. Sie sitzen neben der EU-Kommission im Aufsichtsgremium von Frontex: "Man konnte nichts gegen ihn tun, er wurde immer arroganter und berief sich nur noch auf seine Aufgabe, die Grenzen zu schützen." Jetzt müsse sich die Arbeitsweise von Frontex von Grund auf ändern. Sie fordert mehr Aufsicht über die Behörde durch die EU-Kommission, die jahrelang alle Vorwürfe ignoriert habe, sowie durch die Mitgliedsländer, die Frontex immer geschützt hätten. Aber auch das Europaparlament müsse künftig viel aktiver werden, so Strik.

Seenotrettung im Mittelmeer: Retter helfen Flüchtlingen aus ihrem Schlauchboot
Rettung von schiffbrüchigen Flüchtlingen vor Libyen - auch hier soll Frontex Pushbacks unterstützt habenBild: Renata Brito/AP Photo/picture alliance

Ihre Kollegin Birgit Sippel von den Sozialdemokraten im Europaparlament betont ebenfalls, der Rücktritt von Leggeri sei nur ein erster Schritt: "Der Fisch stinkt vom Kopf." Jahrelang seien die Berichte über Pushbacks und andere Praktiken nicht verfolgt worden und die EU-Kommission habe auf Zeit gespielt. Leggeri habe die Agentur schlecht verwaltet, ihren Ruf erheblich geschädigt und das Parlament in die Irre geführt.

Auch sie fordert mehr und bessere Aufsicht über Frontex. Whistleblower müssten geschützt und die Aufklärung von Grundrechtsverletzungen weiter vorangetrieben werden, um die Glaubwürdigkeit der Behörde wiederherzustellen. Sie kritisiert auch die Schwäche des Verwaltungsrats von Frontex, dem sie Passivität und Unentschlossenheit vorwirft.

Mehr Aufsicht und einen Kulturwandel

Karl Kopp von der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl hält den Rücktritt von Leggeri ebenfalls für "längst überfällig": "Es ist ein Skandal, dass der Direktor einer EU-Agentur jahrelang Menschenrechtsverletzungen verdeckt, Beweise manipuliert und das Europapalament belogen hat." Kopp fordert einen Neubeginn, den Rückbau von Frontex und einen grundlegenden Kulturwandel. Mit ihrem riesig angewachsenen Etat und der steigenden Fülle von Aufgaben laufe die Behörde "immer mehr aus dem Ruder".

Kopp fordert auch eine unabhängige Beobachtungsstelle für Menschenrechtsverletzungen bei Frontex sowie mehr Aufsichtsrechte für das Europaparlament. Frontex und die Mitgliedsländer hätten jahrelang Arbeitsteilung betrieben und sich die Verantwortung für Pushbacks vor Griechenland und vor der libyschen Küste gegenseitig zugeschoben. Jetzt müsse die Verantwortung für das Handeln der Grenzbehörde klar geregelt und die Menschenrechte geachtet werden.

Kandidaten für die Nachfolge bei Frontex werden zunächst vom Europaparlament angehört, das dann Empfehlungen aussprechen kann. Die Abgeordneten hoffen, dass ihre Meinung von der EU-Kommission und den Mitgliedsländern auch berücksichtigt wird.