Nach Erdogans Sieg - EU in der Klemme
2. November 2015Die offizielle Stellungnahme zum Sieg der AKP ist zurückhaltend: EU Außenpolitik-Chefin Federica Mogherini lobt das Vertrauen der türkischen Bürger in den demokratischen Prozess, das sie durch eine hohe Wahlbeteiligung bewiesen hätten. Was aber den Wahlverlauf angeht, wartet man zunächst auf den Bericht der OSZE Beobachter. Abgesehen davon beschwört die EU die Partnerschaft mit der Türkei und wünscht sich eine Fortsetzung der Zusammenarbeit. Eine Erklärung von höchster diplomatischer Trockenheit.
Auch EU Parlamentspräsident Martin Schulz hält sich zurück: "Ich hoffe dass Erdogan seine absolute Mehrheit für eine moderatere Form der Regierung einsetzt, die Polarisierung im Land überwindet und vor allem in der Kurdenfrage einlenkt, die so wichtig für die Beziehungen zu Europa ist". Bei den kommenden Verhandlungen über die Flüchtlingskrise glaubt Schulz, könne sich der türkische Premier jetzt entspannter zeigen. Allerdings: "Es werden Verhandlungen auf Augenhöhe, keine Seite wird alle ihre Forderungen durchsetzen können". Wir brauchen die Türken zur Bewältigung der Flüchtlingskrise, sie brauchen uns für die Visa-Liberalisierung, die wirtschaftlich für das Land wichtig ist, meint Schulz im Interview mit der Deutschen Welle.
"Wir hängen von der Gnade Erdogans ab"
Elmar Brok dagegen wird sehr deutlich: Die Türkei habe sich nicht erst in den letzten Wochen des Wahlkampfes, sondern schon in den vergangenen ein, zwei Jahren immer mehr von einem Rechtsstaat wegentwickelt, sagt der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament im Interview mit dem rbb Inforadio. Ob es bei der Wahl mit rechten Dingen zugegangen sei, werde sich noch zeigen, obwohl es wohl keine Hinweise auf eine generelle Wahlfälschung gebe. Grundsätzlich habe Präsident Erdogan den Wählern die Frage gestellt: Wollt ihr mich oder das Chaos, und da habe der Wähler sich für Stabilität entschieden.
Die Verhandlungen der EU mit der Türkei zur Flüchtlingsfrage betrachtet der CDU- Politiker wenig optimistisch: "Wir werden die Flüchtlingskrise nicht ohne Erdogan bewältigen, und Erdogan sitzt am längeren Hebel". Die Europäer müssten einfach mit ihm kooperieren, was auch für die Beendigung des Krieges in Syrien gelte: Die Türkei ist bei den Gesprächen in Wien dabei, ohne sie werde es dort keine Lösung geben. "Es wird viel von der Gnade Erdogans abhängen, ob er ein Stückchen in Richtung Vernunft geht. Er hat es in der Hand, ob es zur Kooperation (bei den Friedensgesprächen) kommen wird." Keine angenehme Auslangslage für die EU.
Quittung für Nichtstun
"Die EU bekommt mit dieser Wahl die Quittung dafür, dass sie sich jahrelang vor den Problemen der Türkei gedrückt hat", sagt Rebecca Harms, Fraktionschefin der Grünen im Europaparlament. Auf jeden Fall dürften die Europäer angesichts des Wahlverlaufes nicht wegsehen: "Der ganze Wahlprozess genügt demokratischen Anforderungen nicht", sagt Harms, und nennt die Verwüstung von HDP-Parteibüros als Beispiel, sowie den generellen Umgang mit Oppositionellen nach dem Anschlag von Ankara. "Erdogan und seine Partei haben ein Klima der Verunsicherung geschaffen", und das habe sich an den Wahlurnen ausgezahlt.
Wie weit aber kann die EU Erdogan bei den Gesprächen über eine Begrenzung des Flüchtlinsgstroms entgegenkommen? Man muss offene Worte finden, meint Rebecca Harms. Sie befürwortet, die eingefrorenen Beitrittsverhandlungen wieder in Gang zu bringen. Dieses Versprechen bestehe sowieso seit dem vorletzten Gipfeltreffen. Allerdings: "Es ist bizarr, wenn man jetzt in wirklich besorgniserregender Lage etwa die Diskussion über Justiz und Rechtsstaatlichkeit eröffnet", nachdem man jahrelang kein Interesse an diesem Dialog gehabt habe.
Eine Koalitionsregierung wäre für die EU besser gewesen
"Eine große Koalition in Ankara wäre den Wünschen der EU mehr entgegengekommen", meint Sinan Ülgen vom Politik-Institut Carnegie Europe. Denn mit dem Wahlsieg der AKP sei die Verhandlungsposition der türkischen Regierung gestärkt. Sie stehe selbst durch die Flüchtlingskrise politisch nicht unter Druck, weil sie im Wahlkampf kein Thema gewesen sei. Also könne Ankara sich jetzt entspannt zurücklehnen, und die Europäer kommen lassen.
Sein Kollege Marc Pierini ist ebenfalls skeptisch, mit Blick auf die Zukunft der gegenseitigen Beziehungen: "Es gab schon während des Wahlkampfes große Sorgen wegen der Polarisierung durch Erdogan, der Schließung von Oppositionsmedien usw. – all das ähnelt nicht einer liberalen Demokratie im Sinne der EU". Die Beziehungen mit der Türkei werden in ziemlich schweres Wasser geraten, meint der frühere EU Botschafter in Ankara. Er kritisiert auch das Vorgehen der Europäer in den letzten Jahren: Sie hätten ihre Karten gegenüber der Türkei schlecht gespielt. "Jetzt werden wir in eine längere Phase der Basar-Diplomatie eintreten", wo beide Seiten den Preis für ihre Forderungen versuchen hochzuschrauben. Eine Einigung könnte schwierig werden, glaubt Pierini, weil Erdogan nach seinem Wahlsieg einfach keinen politischen Druck mehr verspüre.