Achterbahn der Gefühle bei Boeing
20. Juni 2019Dies sei die schwerste Krise in seiner über 30-jährigen Karriere bei Boeing, sagte der Chef der Zivilflugzeugsparte Kevin McAllister zur Eröffnung der weltgrößten Luftfahrtmesse in Paris Le Bourget. "Wir entschuldigen uns und beten für die Familien und Angehörigen der Opfer der beiden 737-Max-Abstürze," so McAllister auf einer der seltenen Pressekonferenzen der Boeing-Führung. Jeder Stein würde derzeit umgedreht und geschaut, welche Lektionen man aus dem Desaster lernen könne.
Das scheint dringend geboten, denn beim weltgrößten Flugzeughersteller läuft gerade so ziemlich gar nichts rund. Leanne Caret, die Chefin der Verteidigungssparte, beteuert ebenfalls Ihr Mitgefühl für die Absturzopfer und entschuldigt sich. Sie muss aber auch für massive Versäumnisse in ihrem Bereich die Verantwortung übernehmen – gerade gab es peinliche Probleme in der Fertigung von Boeing-Tankflugzeugen für die US Luftwaffe, in bereits ausgelieferten Maschinen wurden vergessene Werkzeuge gefunden. "Das ist völlig inakzeptabel", räumt Caret ein.
Es knirscht an allen Ecken
Über Qualitätsprobleme klagen auch Airline-Kunden des Bestsellers Boeing 787 aus dem Werk in North Carolina. Boeing sieht nicht gut aus gerade, egal wohin man schaut. Nach Monaten des Schweigens wirken die jetzigen Beileidsbekundungen beinahe wie ein einstudiertes Ritual. Eine besonders schlechte Figur gibt dabei Boeing-Chefv Dennis Muilenburg ab. In Paris traut er sich nicht, sich der Presse zu stellen, gibt nur wenige Fernsehinterviews und trifft einen handverlesenen Kreis von 15 Journalisten. Dabei räumt er auch Fehler in der Kommunikation ein.
Dann am Dienstagnachmittag die dramatische und völlig überraschende Wende für Boeing. Sie kommt so plötzlich, dass es viele Journalisten nicht rechtzeitig in die kurzfristig angesetzte Pressekonferenz schaffen. Dort sitzt einer der führenden Köpfe unter den weltweiten Airline-Chefs, der trockene Ire Willie Walsh, Chef der Airline-Holding IAG, zu der unter anderem British Airways und Iberia gehören. Walsh war selbst früherer Boeing 737-Pilot und erteilt einen - unter den aktuellen Umständen - unfassbar großen Auftrag von bis zu 200 Boeing-737-Max-Flugzeugen.
Die symbolische Wende
Seit dem jüngsten Absturz im März gab es nicht eine einzige Order und noch nie in der Luftfahrtgeschichte gab es überhaupt einen Auftrag für ein zum Zeitpunkt der Erteilung aus Sicherheitsgründen weltweit mit behördlichem Startverbot belegtes Flugzeug. Wahrscheinlich hat Boeing noch nie einen symbolisch wichtigeren Auftrag bekommen. Selbst CEO Dennis Muilenburg erscheint, die üblicherweise öffentlich alles andere als gefühlsseligen Männer umarmen einander vor der Weltpresse. "Ich vertraue Boeing, und ich habe keinen Zweifel, dass die Menschen längerfristig erkennen werden, dass dies ein großartiges Flugzeug ist", sagt Willie Walsh, der die 737 Max vor Auftragserteilung selbst im Simulator geflogen hat, mit alter und neuer MCAS-Software, jener Automatik die für die Abstürze verantwortlich gemacht wird.
In der Branche sorgt der IAG-Großauftrag für Kopfschütteln und Unverständnis. Vielleicht sind manche auch neidisch auf die Chuzpe des Willie Walsh, der seine bis zu 200 Max vermutlich "fast geschenkt" bekommt, wie die Konkurrenz argwöhnt. Beinahe zur gleichen Zeit läuft vor dem Boeing-Chalet, wo der Auftritt stattfand, der Chef von Ethiopian Airlines vorbei, Tewolde Gebremariam. Er ist ebenso überrascht wie alle anderen über den Auftrag. Seine Airline, so hat er betont, werde zu den letzten gehören, die die Max wieder in Betrieb nehmen werden nach der Freigabe. Tewolde betont dass er mit Boeing in engem Kontakt stehe und weiterhin Vertrauen habe, "aber diese öffentlichen Mitleidsbekundungen hier kommen ganz klar zu spät", so Tewolde gegenüber der DW.
Kurze Hüpfer mit dem autonomen Lufttaxi
Der übliche Zweikampf um Orders zwischen Airbus und Boeing auf dem Aerosalon gerät dabei diesmal fast in den Hintergrund. Dabei bringen die Europäer Boeing in einem wichtigen Marktsegment arg in Bedrängnis, seit sie in Paris am Montag offiziell ihre Ultra-Langstreckenversion der A321neo gestartet haben. Das ursprünglich für Mittelstrecken konzipierte zweistrahlige Flugzeug mit nur einem Mittelgang kann bis zu 8700 Kilometer weit und damit etwa von Frankfurt nach Miami fliegen, und das wesentlich kostengünstiger, als die bisher dort eingesetzten Großraumflugzeuge.
Unter dem Strich sammelte Airbus Bestellungen und Vorverträge über 363 neue Flugzeuge ein - 126 Orders davon für die neue A321XLR. Nach bisherigen Angaben kam Boeing auf Aufträge und Vorverträge über 272 Jets. Boeing hatte in der Max-Krise den Start ihres neuen Flugzeugs im mittleren Segment zurückgestellt und muss nun zunächst Airbus das Feld überlassen.
Wirklich neu in Paris ist der starke Fokus auf Elektro-, Hybrid- und autonomes Fliegen. Sowohl Airbus als auch Boeing, aber auch eine Handvoll Start-ups haben teilweise Original-Fluggerät ausgestellt, das zunächst Testzwecken dient. Die große Herausforderung, so drückt es ein Boeing-Manager für Zukunftsprogramme aus, ist dabei "dass wir nicht nur die Fluggeräte völlig neu entwickeln müssen, sondern vor allem die gesamte Infrastruktur, in dem diese Art von Flugzeugen künftig unterwegs sein werden."
So wenig bisher klar ist, wie das alles genau aussehen wird, so sicher sind sich alle Industrievertreter, dass die Menschheit in maximal einem Jahrzehnt beginnen wird, kurze Hüpfer etwa in Großstädten per autonomem Lufttaxi zu machen. Am anderen Ende des Spektrums verspricht Blake Scholl, Chef des US-Start-ups Boom Supersonic, dass seine Firma bis etwa 2027 wieder 50sitzige Passagierjets einführen wird, die mit 2,2-facher Schallgeschwindigkeit schneller als die Concorde fliegen sollen. Diesmal aber, so das Versprechen, nachhaltig und leise. Japan Airlines hat bereits 20 Überschalljets bei Boom bestellt.