Hoffnungsschimmer nach der Ahrtal-Flut
23. Dezember 2021Leise gluckert das Wasser aus dem Kellergewölbe aus dem 18. Jahrhundert, fließt durch ein steinernes Bett vorbei an den Fachwerkhäusern von Blankenheim in der Eifel, ganz im Westen Deutschlands. Hier entspringt die Ahr. Der Fluss, der vor einem halben Jahr zu einer Flutwelle wurde, seinen Lauf veränderte und dabei auch das Leben Zehntausender Menschen bedrohte.
Das erste Licht des Tages kämpft sich durch die Dunkelheit. Es ist neun Grad unter null. Im Gasthof gegenüber der Ahrquelle scheint noch niemand wach zu sein, nur die Weihnachtsbeleuchtung blinkt in den Fenstern. In der Bäckerei um die Ecke verlangen die ersten Kunden Vollkornbrötchen. Die Verkäuferin klopft dreimal auf ihre Theke. "Uns hier hat es Gott sei Dank kaum erwischt", sagt sie. "Aber wenn Sie die Ahr runterfahren, dann brauchen Sie Taschentücher. Das Ahrtal sieht immer noch traurig aus."
Auf etwa 85 Kilometern fließt die Ahr von der Eifel bis zum Rhein. Zunächst plätschert sie als Bach sanft bergab durch weite Wiesen, auf denen der Raureif weiß glitzert. Dann verengt sich das Tal. Nach 35 Kilometern ist aus dem Bach ein kleiner Fluss geworden, der sich in zwei Schleifen um den Ort Schuld legt.
Ein Weihnachtswunsch geht in Erfüllung
In der Nacht auf den 15. Juli war die Ahr kein Fluss mehr, tagelanger Regen hatte sie in ein Monster verwandelt. In Schuld riss es ganze Häuser mit sich. An den Häusern, die noch stehen, markieren braune Streifen, wie hoch das Wasser stand.
So wie am Haus von Hans-Peter Diel, etwas mehr als 100 Meter Luftlinie vom Fluss entfernt. Diel stellt seine Schubkarre ab, zeigt hoch zum Obergeschoss. Dorthin hatte er sich mit seiner Familie gerettet, als die Flut unter ihnen so vieles zerstörte.
Seitdem wohnen die Diels bei Verwandten. Und kommen in jeder freien Minute hierher, um zu schuften. Sie haben Schlamm, Geröll und Treibgut aus dem Haus getragen, den Putz abgeklopft, die Fußböden herausgerissen. Sie gehören zu den schätzungsweise 42.000 Menschen im Ahrtal, die von der Flut betroffen waren. "Wir haben immer weitergemacht", sagt Diel. "Zusammen mit vielen, vielen Helfern. Unser größter Wunsch war, Weihnachten wieder zuhause zu sein. Und dieser Wunsch geht in Erfüllung."
Noch steht der mit bunten Kugeln geschmückte Tannenbaum der Diels vor dem Haus. Drinnen wird verputzt und gestrichen, Möbel fehlen noch, Türen, eine Küche auch. "Aber Hauptsache, wir sind wieder zuhause", sagt Diel. Morgen will seine Frau Nicole die Figuren der Weihnachtskrippe aufstellen. Maria, Josef, das Jesuskind, Ochse, Esel und die Hirten haben die Flut schadlos überstanden.
Von Schuld geht es weiter, über Behelfsbrücken und Umleitungen, vorbei an unzähligen Baggern, die links und rechts der Ahr versuchen, die Geröllwüste zurückzuverwandeln in ein Flussufer. Sie haben kleine Hügel aufgeschüttet. Erdhügel, Hügel aus Baumwurzeln, daneben Hügel aus Autoreifen, Hügel aus Plastikrohren.
Ein Gespräch und eine Tasse Kaffee
Am Straßenrand ein paar erfrorene Stiefmütterchen, gepflanzt rund um eine Stele aus Granit. Davor rote Grablichter und Engelsfiguren aus weißem Stein. Sie erinnern an eine fünfköpfige Familie, die in der Flut starb. Fünf von 134 Menschen, die in dieser Nacht im Ahrtal ihr Leben verloren. Die Eltern hatten sich mit ihren fünf-, sechs- und sechzehnjährigen Kindern auf das Dach ihres Hauses in Ahrbrück geflüchtet, als das Wasser höher und höher stieg. Doch die Flut riss alles mit sich, von ihrem Haus blieb nur der Keller.
Ein paar Orte weiter, in Altenahr, stehen in der Hauptstraße zumindest noch die meisten Häuser. Doch die Fenster und Türen der einstigen Hotels und Weinlokale sind mit Spanplatten verrammelt. Am Hotel "Rittersprung" steht "Hoffnungswerk" am Klingelschild. Erika Neustädter öffnet die Tür und bittet herein. Vorbei an rohem Mauerwerk und provisorischen Deckenstützen geht es durch einen dunklen Gang in die Wohnküche. Braune Ledersofas stehen hier, Lichterketten hängen von der Wand, ein Heizstrahler sorgt für Wärme. Auf einem langen Holztisch brennen vier Kerzen im Adventskranz. Neustädter und ihr Mitbewohner Martin Petlewski nehmen Platz.
"Ich bin aus dem Sauerland hierher gezogen, um zu helfen", erzählt Neustädter. Deshalb hat sie sich dem Verein "Hoffnungswerk" angeschlossen, möchte ein Jahr lang hierbleiben. Die 30-Jährige hilft von der Flut Betroffenen dabei, die zahlreichen Formulare auszufüllen, die es für die staatlichen Hilfen braucht. Insgesamt 30 Milliarden Euro wollen Bund und Länder in einem Wiederaufbaufonds bereitstellen.
"Als nächstes werde ich in unserem Cafébus arbeiten und den Menschen anbieten, mit Ihnen bei einer Tasse Kaffee ins Gespräch zu kommen. Viele Leute hier im Ahrtal sind traumatisiert. Sie haben ein großes Bedürfnis, ihre Erlebnisse aufzuarbeiten."
Hinter Altenahr wird das Tal zur Schlucht, rechts und links geht es nun steil hinauf. In engen Schleifen windet sich der Fluss, an den Hängen darüber wächst Wein. Ob die Touristenim Frühling wiederkommen werden, um diesen Ausblick bei einem Glas Ahrwein zu genießen? In der Flutnacht war die malerische Landschaft den Menschen hier zum Verhängnis geworden. Im engen Tal staute sich das Wasser haushoch. Am Wegesrand jetzt: immer wieder eine Baulücke, bei der man denkt: hier stand einmal ein Haus.
Wer trägt Schuld?
Immer wieder sieht man nun Behelfsunterkünfte, weiße Container, die Schutz und Wärme bieten sollen. Etwa im Weinort Dernau, wo der Arbeiter-Samariter-Bund elf Wohncontainer aufgestellt hat. So hat auch Dieter Heß zumindest wieder ein eigenes Dach über dem Kopf, nur 50 Meter weit von seinem zerstörten Haus entfernt. Der Rentner führt durch sein neues Zuhause. "Hier hab ich meine kleine Küche mit Mikrowelle und Induktionsherd. Da ist das Bad und hier der Schlafraum." Mit den neuen, weißen Möbeln sieht es aus wie in einer Ikea-Musterwohnung. Die 26 Quadratmeter sind schnell besichtigt. Neben dem Bett hängt ein Fernseher, es läuft Golf.
"Hier werde ich also Weihnachten feiern", sagt Heß. Erst vor fünf Tagen sind er und weitere Dernauer Rentner eingezogen, einen Gemeinschaftsraum gibt es auch. Heß wohnte vorher allein in einem Hotelzimmer bei Bonn. Ob ihm überhaupt nach Weihnachten zumute ist? "Nicht wirklich", sagt Heß. "Der Glaube an Gott ist nur noch eingeschränkt da. Ein Gott, der alles kann, der ist auch für das Hochwasser verantwortlich."
Die Frage, ob Menschen mitschuldig sind an der Katastrophe, ist noch nicht beantwortet. Haben die Behörden zu spät gewarnt? Zu wenig vorgesorgt? Welche Rolle spielte der menschengemachte Klimawandel? Noch haben Kommissionen und Ausschüsse ihre Ergebnisse nicht vorgelegt.
Etwas Hoffnung - bei aller Verzweiflung, in allem Leid – haben vielen Menschen im Ahrtal die Helfer gegeben, die von nah und fern ins Flutgebiet kamen. Überall im Tal hängen Transparente, auf denen die Bewohner ihnen ihren Dank aussprechen.
Jasmin Hachenberg fuhr direkt am ersten Wochenende nach der Flut aus Köln hierher. Sie half, den Schutt wegzuräumen. Nahm ihren Jahresurlaub, um länger blieben zu können. Kündigte dann ihren Job in der Filmproduktion. "Es hat sich einfach falsch angefühlt, wieder ganz normal zu arbeiten. Hier kann ich etwas wirklich Sinnvolles machen."
Jetzt steht Hachenberg in Kapuzenpulli und Steppweste vor einem früheren Güterschuppen am Bahnhof Dernau und nimmt Lebensmittelspenden in Empfang. "Aber bitte keine Plätzchen und Schoko-Weihnachtsmänner mehr", ruft sie dem Spender zu. "Die stapeln sich schon." Im "Tante-Emma-Laden" versorgen Hachenberg und andere Freiwillige die Dernauer mit Dosensuppen, Deodorant und allem anderen, was man zum Leben braucht. Nicht nur Sachspenden gehen seit dem Sommer im Überfluss ein. Mehr als eine halbe Milliarde Euro haben die Deutschen bereits für die Flutopfer gespendet.
Der nächste Kampf
Weiter geht es die Ahr hinab. Noch ein letzter Fels, dann öffnet sich das Tal, wird breiter, macht Platz für die mit 30.000 Einwohnern größte Stadt am Fluss: Bad Neuenahr-Ahrweiler. Über den meisten Hausdächern steigt weißer Rauch aus den Schornsteinen. Aber nicht aus allen, denn längst nicht alle Heizungen laufen wieder. Die Kastenwagen der Handwerker bestimmen das Bild auf den Straßen. Dachdecker, Fliesenleger, Malermeister. Ihre Arbeitskraft ist gefragt wie nie – und Termine sind seit langem kaum zu bekommen.
Im Stadtteil Heppingen steht eines der Handwerkerautos vor dem Haus von Hans Gerd Breuer. Ein Bohrhammer dröhnt. Breuer führt durch seinen Keller, sein Schwiegersohn an seiner Seite. Auch hier war die Heizung kaputt, eine neue ist noch nicht installiert. Breuer zeigt in einen Raum, der von Schlamm und Schutt befreit ist. "Hier stand meine Modelleisenbahn", erzählt er. "Aber es ist alles weg, einfach alles." Auf der Kellertreppe hält Breuer kurz inne. Sein Schwiegersohn erzählt, dass dem 82-Jährigen das Rauschen des Wassers nicht mehr aus dem Kopf gehe. Er hatte noch Aktenordner retten wollen, war im Keller eingeschlossen. Im letzten Moment schlug er die Glasscheibe einer Tür ein, sonst wäre er ertrunken.
Breuer hatte sein Haus gegen Flutschäden versichert – anders als viele Hausbesitzer hier im Tal. Da müsste er es ja nun einfacher haben als andere? "Ja, aber jetzt muss ich mich mit der Versicherung herumschlagen", sagt er. "Die versuchen, alles hinauszuzögern. Schon acht Gutachter waren bei mir im Haus, um die Schäden in Augenschein zu nehmen. Das ist zermürbend." Bis seine Versicherung zahlt, muss Breuer die Handwerker aus eigener Tasche bezahlen. "Weihnachten im eigenen Haus, das wird nichts mehr", sagt er. Er hofft, dass er Ostern wieder einziehen kann.
Rückkehr an die Ahr
Kurz bevor die Ahr den Rhein erreicht, fließt sie auf ihren letzten Kilometern an Kies- und Sandbänken vorbei durch ein Naturschutzgebiet. Auch hier hat der Fluss gewütet. Die Holzbalken einer Fußgängerbrücke liegen wild aufeinandergestapelt wie Konzeptkunst am Ufer. Still ist es hier, nur ab und an hört man den Ruf eines Vogels. "Hier gibt es seltene Arten, Uferläufer, Gänsesäger, Gebirgsstelzen", erzählt Karin Feret. "Heute habe ich auch schon Eisvögel beobachtet." Wie jeden Tag ist die 80-Jährige mit Fernglas und Fotokamera unterwegs.
"Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, ich hänge an der Ahr", sagt sie. "Sie war immer wunderschön. Aber wie die Ahr dieses Jahr gewütet hat, das ist ein Drama." Feret hofft, dass alle seltenen Arten bald wieder zurückkehren an die Ahr. Und dass auch für die Menschen im Ahrtal bald wieder Normalität einzieht.