Proteste gegen Erdogan in Fußballstadien
28. Februar 2023Sport und Politik sind auch in der Türkei nicht mehr voneinander zu trennen. Aber: Nach der schweren Erdbebenkatastrophe im Südosten des Landes hatte sich die Wut der Öffentlichkeit am vergangenen Wochenende erstmals direkt auf die Regierung von Präsident Erdogan gerichtet. Die Verärgerung machte sich in den Stadien der großen Traditionsvereine breit.
Die Fans von Fenerbahce und Besiktas Istanbul forderten bei ihren Liga-Spielen lautstark den Rücktritt der Regierung. Erdogan und seine Minister wurden nach der Erdbeben-Katastrophe insbesondere von der Opposition kritisiert. Gerade der Umstand, dass alle Verantwortlichen den Bau von Erdbeben-unsicheren Gebäuden unmittelbar an der Verwerfungslinie genehmigten oder ein Auge zudrückten, macht viele Menschen wütend. Ein weiterer massiver Kritikpunkt: Das verspätete Eintreffen der Such- und Rettungskräfte im gesamten Erdbebengebiet.
Die Verwüstungen, die das Erdbeben am 6. Februar 2023 in dem seit Monaten mit einer Wirtschaftskrise kämpfenden Land angerichtet hat, haben die Reaktionen gegen die Regierung vor den anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen noch weiter verstärkt.
Fußballstadien als letzte Bastion
Die Ereignisse des Wochenendes können zur Folge haben, dass die Regierung, die seit Jahren die Meinungs- und Pressefreiheit im Lande einschränkt, auch versuchen wird, die kritischen Stimmen auf den Tribünen zum Schweigen zu bringen. Devlet Bahceli, Vorsitzender der regierenden Partei MHP, des nationalistischen Partners von Erdogans Partei AKP, sagte, er verurteile "auf das Schärfste die Nutzung des Sports für schmutzige Politik" in einer Zeit, in der die Wunden des Erdbebens noch nicht verheilt seien.
Seine Forderung: Alle Spiele sollten ab jetzt Geisterspiele werden, also ohne Zuschauer ausgetragen werden. Eine erste Maßnahme: Die Fans von Fenerbahce dürfen das Auswärtsspiel gegen Kayserispor am kommenden Wochenende nicht besuchen. Das teilte der Klub am Dienstag via Twitter mit und zeigte sich bestürzt über die Entwicklungen.
Bahceli sagte zudem, dass alle Fans, die gegen die Regierung skandieren, "ermittelt und bestraft" werden sollten. Der Nationalistenführer, bis dahin selbst Mitglied bei Besiktas Istanbul, beendete seine Vereinszugehörigkeit.
Kurz nach den beiden starken Erdbeben wurden die sozialen Medien wieder einmal unter Druck gesetzt. Grund: Kritische Stimmen sollten schnell zum Schweigen gebracht werden. Wenn aber bei den Spielen Tausende Fußballfans regierungskritische Parolen skandieren, ist damit eine neue Dimension in der Türkei erreicht. Experten gehen davon aus, dass die "Angstschwelle" gegenüber der repressiven Regierung in Ankara überschritten ist. Nach diesen beiden Partien am Wochenende brachen auch einige populäre Sportkommentatoren ihr Schweigen und sagten, dass die Stimme der Tribünen nicht zum Verstummen gebracht werden sollte. Diese Gemengelage hat im Lager der AKP-Gegner für große Aufregung gesorgt.
"Gesellschaftliche Reaktionen reißen Mauern nieder"
Im Gespräch mit der DW sieht der Sport-Journalist Bagis Erten die Rücktrittsaufrufe in den Stadien eher als "soziale Reaktion" denn als "politische. Deshalb können Ängste kein Hindernis sein. Soziale Reaktionen haben die Fähigkeit, Mauern einzureißen". Erten verweist darauf, dass autoritäre Regierungen auf der ganzen Welt ein Problem in Fußballstadien haben. "Wenn man die gesellschaftliche Opposition unterdrückt, sickert sie, wie alles, was man mit Füßen tritt, irgendwo durch und breitet sich dann an anderen Orten aus. Tribünen haben schon immer ihren Anteil an der Verbreitung gehabt. Egal, ob es sich um Europa, Lateinamerika oder den Nahen Osten handelt", so Erten.
Werden die Demonstrationen auf die Straße getragen?
Sport-Journalist Kenan Basaran sagt der DW, dass die Proteste in den Stadien "ein Zufluchtsort für das unterdrückte Recht auf Protest sind. Auf der Straße sind diese Proteste verboten." Die Stadien seien "anonymer und voller" und würden den Demonstranten einen teilweisen Schutz vor dem Eingreifen der Sicherheitskräfte geben, so Basaran: "Das Ideal in einer Demokratie ist, dass der Einzelne seine demokratische Reaktion auf der Straße zeigen kann. Warum kann jemand, der auf der Tribüne schreien kann, nicht auch auf der Straße schreien? Das ist die eigentliche Frage."
"Carsi", die größte und bekannteste Fangruppe von Besiktas Istanbul steht derzeit im Zusammenhang mit den Gezi-Ereignissen vor Gericht. Jenen Straßenprotesten gegen die Erdogan-Regierung, die 2013 in vielen Städten des Landes stattgefunden haben.
Enge Verbindungen zwischen Vereinen und türkischer Regierung
Viele Fußballvereine in der türkischen "Süper Lig" pflegen allerdings enge Verbindungen zur AKP. Daher kann von einer Solidarisierung mit den Demonstranten keine Rede sein. Diese Vereine gaben Erklärungen ab, in denen sie die Stadion-Proteste vom Wochenende kritisierten. Auch der Fußballverein in Erdogans Heimatstadt Rize hat in seiner Erklärung harte Töne angeschlagen. Es fielen sogar Ausdrücke wie "Schurken" oder "Kanalratten", um die Teilnehmer der Tribünenproteste zu kritisieren. Ein anderer Verein, der ebenfalls das Verhalten der Fans missbilligte, ist Corendon Alanyaspor. Vorstandsvorsitzender ist der ältere Bruder von Außenminister Mevlüt Cavusoglu.
Schon vor der AKP gab es in der Türkei ein großes Problem, was die korrupte Beziehung zwischen Sport und Politik angeht. Der Behauptung, dass diese Umstände während der AKP-Ära ihren Höhepunkt erreicht haben, würde aber wohl niemand widersprechen. Der Sportjournalist Inan Özdemir betont, dass die Regierungen in der Türkei gerne Politik in den Sport einfließen lässt: "Es war für sie einfach, solange sie die Message in den Stadien kontrollieren konnten." Denn die AKP-Regierung, erinnert Özdemir, ist seit vielen Jahren nicht daran gewöhnt, "eine Stimme gegen sich" zu hören.
Erten: "Eine ernstzunehmende Warnung"
Noch ist nicht abzuschätzen, ob die Protestwelle auf den Tribünen anhalten wird. Bagis Erten zufolge sind diese Reaktionen jedoch eine "ernstzunehmende Warnung" für die Regierung. Erten: "Nach dem Erdbeben sind sie mit einer viel größeren gesellschaftlichen Reaktion konfrontiert, als sie dachten. Mit anderen Worten: Es ist eine Reaktion, die sie nicht unterdrücken, organisieren oder einschüchtern können."