"Stoppt Flächenversiegelung"
17. Juni 2015"Alle Bagger müssten ab sofort stillstehen. Bis zum Ende des Jahres". Das fordert der Naturschutzbund Deutschland (NABU). Denn in Deutschland wurden in den ersten fünf Monaten bereits so viele Flächen versiegelt wie die frühere Bundesregierung das bereits ab 2020 jährlich vorsieht. 2002 hatte Rot-Grün in der Nachhaltigkeitsstrategie festgelegt, den täglichen Landschaftsverbrauch bis 2020 auf 30 Hektar pro Tag zu reduzieren. Alle nachfolgenden Bundesregierungen hatten sich zu der Vorgabe "30-Hektar-Ziel" bekannt. Die Realität sieht jedoch noch deutlich anders aus: Mehr als 70 Hektar werden tagtäglich umgewandelt: Auf Äckern, Grünland und anderen Flächen der freien Landschaft entstehen Wohnanlagen, Gewerbegebiete, Produktionshallen, Einkaufszentren, Straßen und Golfplätze. Die Energiewende fordert für den Bau von Stromtrassen und Windräder ebenfalls Tribut.
Biotope werden durch die Zersiedelung zerstört, asphaltierte oder bebaute Böden können das Regenwasser nicht mehr aufnehmen. Wo kein Humusboden lebt, kann kein klimaschädliches Kohlendioxid mehr gebunden werden.
Wie die Heinrich-Böll-Stiftung in ihrem "Bodenatlas" darlegt, entspricht die Fläche des täglichen Verbrauchs der von 100 Fußballfeldern.
"Es waren sogar mal 120 Hektar Landschaft, die täglich zerstört wurden, immerhin die Richtung stimmt", sagt Dr. Ulrich Kriese, siedlungspolitischer Sprecher des NABU nicht ohne Ironie.
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen fordert, bis 2050 gar keine Flächen mehr zu versiegeln, weil die Experten die Artenvielfalt bedroht sehen und Nachteile für die Klimabilanz befürchten. Außerdem sind die Böden für die Landwirtschaft nicht mehr nutzbar.
"Immobilien shoppen"
Besonders in Städten wird weiter nach wertbeständigem "Betongold" gejagt und daher gebaut, was geht. Besonders in Berlin zahlen institutionelle Investoren aus dem Ausland oder vermögende Privatleute nahezu jeden Preis. Und selbst in Hochwasserregionen am Rhein, um die Städte Neuss, Leverkusen, Köln und Bonn, entstehen Villen und luxuriöse Mehrparteienhäuser - trotz gigantischer Immobilienpreise für exponierte Lagen und den Hochwasserschutz. "Wir beobachten einen Anlagenotstand. Die Zinsen sind niedrig, die Leute wissen nicht, wie sie ihr Geld anlegen sollen. Immobilien sind für viele der sichere Hafen", beschreibt Kriese den Wunsch nach Eigentum. "Der NABU prangert an, dass in den Außenbezirken und im ländlichen Raum neue Flächen verbraucht werden", so Kriese, "weil viele sich Wohnraum in innerstädtischen Kernlagen nicht mehr leisten können. Sie müssen daher in die Peripherie ausweichen."
Die Milchmädchenrechnung für Wohnen auf dem Land
Die größten Flächen gehen beim Bau von Ein- und Zweifamilienhäusern verloren. Viele Bauherren träumen vom Eigenheim im Grünen mit Weitblick, aber nach einiger Zeit wird dieser durch weitere Neubauten geschmälert. Das Wohnen im ländlichen Raum ist zudem oft nicht günstiger, erklärt der promovierte Umweltwissenschaftler Kriese mit Verweis auf Studien. Die belegen, dass Bauland dort zwar deutlich günstiger ist, Familien jedoch weitere Wege zurücklegen müssen und aus Mobilitätsgründen mindestens zwei Autos unterhalten. "Viele bauen auf dem Land dann auch noch größer als sie es sich eigentlich leisten könnten und der Umwelt zuträglich wäre", so Kriese. Dorfkerne verfallen dagegen, da es Vorbehalte gegen das Wohnen im Altbau gebe. Oder man scheue sich, den Bestand entlang der Hauptverkehrsstraße zu sanieren oder den eigenen Bedürfnissen gemäß umzubauen, um sich stattdessen im verkehrsberuhigten, am Rande gelegenen Neubaugebiet anzusiedeln.
"Die Gemeinden sollten Anreize schaffen, wie die Westerwaldgemeinde Wallmerod, die Prämien fürs Bauen im Ortskern vergibt", betont Kriese. Kurze Wege und eine intakte Nachbarschaft sind nicht zu unterschätzende lebenswerte Vorteile. Ältere Menschen bleiben oft in einem viel zu großen Haus wohnen. Aus Gewohnheit, weil ein neues Zuhause mehr kostet als im alten wohnen zu bleiben - oder, weil sie zu wenig Kenntnisse und Erfahrungen über Alternativen, wie altersgerechte Wohngemeinschaften, haben.
Luxusproblem: Weniger Menschen - größerer Wohnbedarf
Obwohl die Demografen seit Jahren auf die langfristig schwindende Bevölkerung in Deutschland hinweisen, sind Bedürfnisse nach mehr Raum ein weiterer Grund für die anhaltende Bebauung. Standen statistisch jedem Bewohner Deutschlands 1950 15 Quadratmeter zu Verfügung, hatte er 2013 das Dreifache zur Verfügung. "Der Wohnraum, den wir brauchen, wäre eigentlich vorhanden. Er ist nur ungünstig verteilt", so die Erkenntnis des NABU-Experten für Siedlungsentwicklung.
"Selbst wenn man akzeptiert, dass nur eingeschränkt umverteilt werden kann, könnte man ohne zusätzlichen Landschaftsverbrauch den Bedarf im Bestand erfüllen durch die Nutzung von Baulücken, Industriebrachen, durch Aufstockungen oder Anbauten von Häusern", sagt Ulrich Kriese.
Nach Angaben des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) gibt es 165.000 Hektar mit Bauruinen und Brachflächen, die recycelt werden könnten. Doch Investoren lassen sich durch mögliche Kontaminierungen, wie Asbest, Lacke oder Öle, abschrecken.
Zeitgemäße Reform der Grundsteuer
Nicht zuletzt fördere das bestehende Steuersystem die Zersiedlung, so der NABU, der neben Bürgermeistern und anderen Organisationen öffentlich für eine Reform plädiert. Bisher müssen Grundstück und Gebäude versteuert werden.
Die Grundsteuer ermutigt Investoren zu weiterem Landschaftsverbrauch, da Baulücken und ungenutztes Bauland sehr niedrig besteuert werden und langfristig leer stehende Häuser sogar von der Steuerpflicht befreit werden können. Außerdem können die Eigentümer die Steuer auf die Mieter als Nutzer der Gebäude leicht überwälzen. Die sogenannte Grundsteuer B (auf Bauland und bebautes Land) bezieht sich dabei auf Werte, die 1964 im Westen und 1935 für den Osten Deutschlands erhoben wurden.
Selbst der Bundesfinanzhof fordert eine Reform, da die Richter die Werte nicht mehr für verfassungsgemäß halten. Würde künftig nur noch das Grundstück, der Boden, und nicht mehr hauptsächlich das aufstehende Gebäude besteuert, würden Eigentümer zu Investitionen und besserer Ausnutzung von Bauland angeregt, so die Hoffnung der Reformbefürworter. Das innerörtliche Flächen- und Wohnraumangebot würde erhöht, die Mieten würden tendenziell sinken oder weniger stark ansteigen. In der Folge würde wenige freie Landschaft für Neubaugebiete beansprucht.