Mütter mischen die Olympischen Spiele auf
6. August 2021Sie liegt auf der roten Tartanbahn und mag gar nicht mehr aufstehen. Minutenlang. Völlig erschöpft nach den 400 Metern in 49,46 Sekunden - Platz drei. "Niemand hat daran geglaubt, dass ich heute hier sein werde", sagt Allyson Felix eine Stunde nach dem Rennen den wartenden Journalisten im Olympia-Stadion. "Niemand hat daran geglaubt, dass ich im Finale sein werde. Aber ich bin eine Kämpferin."
Es ist ihre zehnte olympischen Medaille bei ihren fünften Olympischen Spielen. Diese Spiele in Tokio sind dennoch etwas ganz Besonderes für sie: Die 35-Jährige nimmt erstmals als Mutter teil. "Es ist meine erste Bronze-Medaille. Und trotzdem ist sie so viel bedeutender als die anderen."
Mütter gab es schon bei den Olympischen Spielen 1900 in Paris, als erstmals Frauen zugelassen wurden. Hier in Tokio sind es jedoch so viele Mamas wie noch nie. Das verwundert nicht, denn erstmals in der Geschichte der Spiele sind fast so viele Frauen wie Männer vertreten. Ein wichtiger Schritt in Richtung Gleichberechtigung. Und trotzdem: Es gibt noch viele Hindernisse - besonders für Athletinnen, die Mütter sind.
Was bedeutet es für Athletinnen, zu stillende Kinder zu haben?
Das Entweder-Oder-Problem kennen viele Frauen, für Leistungssportlerinnen, in dem Fall für die kanadische Basketballspielerin Kim Gaucher, hieß es: Entweder auf die Sommerspiele verzichten oder 28 Tage in Tokio ohne das Kind verbringen und nicht stillen zu können. Denn das japanische Organisationskomitee hatte pandemiebedingt nicht erlaubt, dass Familienangehörige einreisen dürfen.
Nach einem emotionalen Instagram-Post von Gaucher und Protesten anderer Sportlerinnen lenkte Japan ein. Doch das löste für viele nicht das Problem. Ona Carbonell, spanische Synchronschwimmerin, entschied sich schweren Herzens dafür, ihr Kind zu Hause zu lassen. Das Baby und ihr Mann hätten 20 Tage im Hotelzimmer verbringen müssen. Zum Stillen hätte sie die Team-Blase verlassen müssen und die Mannschaft damit jedes Mal der Gefahr einer Ansteckung ausgesetzt. "Wir müssen über solche Dinge reden", sagt sie. Das fordert auch die britische Bogenschützin Naomi Folkard, die für ihre 15 Tage in Tokio im Voraus 14 Liter Milch abgepumpt hat.
Wer organisiert und bezahlt die Kinderbetreuung?
Diese Angelegenheit kann das Internationale Olympische Komitee (IOC) auf die COVID-19-Ausnahmesituation und damit von sich weg schieben. Wie sieht es jedoch mit der Kinderbetreuung während der Spiele aus? Die müssen die Mütter selbst organisieren – und bezahlen.
Anfang Juli hatte Sprinterin Felix bekannt gegeben, dass sie zusammen mit ihrem Sponsor und der Women's Sports Foundation einen Fonds in Höhe von 200.000 US-Dollar gegründet hat. Bisher profitieren neun Athletinnen davon - unter anderen die in Kenia aufgewachsene, für die USA startende Marathonläuferin Aliphine Tuliamuk. Sie bekommen jeweils 10.000 Dollar, um die Kosten für die Kinderbetreuung zu decken, während sie arbeiten, sprich trainieren und an Wettbewerben teilnehmen.
Warum kürzen Sponsoren während der Schwanger- und Mutterschaft das Geld?
"Wenn du schwanger wirst", meint 800-Meter-Läuferin Phoebe Wright aus den USA, "ist das der Todeskuss für eine Sportlerin." Schwangerschaft und Baby-Pause führen bislang fast automatisch zu einer drastischen Kürzung der Sponsorengelder - für Athletinnen häufig die einzige Einnahmequelle, von der sie leben können. Und Sponsoren bekommen sie oftmals über ihre Teilnahme an den Olympischen Spielen.
Felix hatte vor einem Jahr mit ihrem Sponsor Nike gebrochen, weil dieser ihr Gehalt wegen nicht erbrachter Leistungen während der Schwangerschaft und kurz nach der Geburt um 70 Prozent kürzen wollte. Trotz einer Geheimhaltungsklausel machte Felix die Diskriminierung publik und zwang Nike zum Einlenken. "Man kann Dinge nicht mit Schweigen verändern", sagt die Top-Läuferin.
Warum sind Sportverbände bei Qualifikationskriterien so unflexibel?
Allein die Teilnahme an Wettbewerben, die wichtig für die Qualifikation für Olympische Spiele sind, ist ein großes, manchmal unüberwindbares Hindernis für Sportlerinnen. Für die kanadische Boxerin Mandy Bujold galten die Platzierungen von drei ausgewählten Turnieren als Qualifikationskriterien für Tokio. Wegen ihrer Schwangerschaft konnte sie jedoch nicht an diesen Turnieren teilnehmen.
Bujold brachte ihren Fall vor den Internationalen Sportgerichtshof CAS. Der entschied, dass für schwangere Frauen oder Athletinnen im Wochenbett andere Quali-Möglichkeiten gefunden werden müssten.
Immer mehr Athletinnen wehren sich gegen diese Art von Diskriminierungen, machen diese vor allem über die sozialen Medien öffentlich - und sind erfolgreich dabei. Allein dadurch sind sie Vorbilder, unabhängig davon, ob sie Medaillen bei den Olympischen Spielen gewinnen oder nicht.
Nach der schweren und komplizierten Geburt ihrer Tochter vor knapp zweieinhalb Jahren und den vielen Kämpfen neben der Laufbahn ist Felix sichtlich stolz, hier in Tokio mit der Bronzemedaille auf dem Podium zu stehen: "Normalerweise kann ich nicht verlieren und bin sehr traurig. Aber heute bin ich sehr glücklich." Später gewinnt sie auch noch Gold mit der 4x400-Meter-Staffel der USA. Es ist Felix' siebter Olympiasieg. Mit elf Medaillen ist sie die erfolgreichste Leichathletin aller Zeiten bei Olympischen Spielen.