Syrische Flüchtlinge wollen weg aus Beirut
8. September 2020Im Gesicht des jungen Mannes spiegeln sich Anstrengung und Verzweiflung. "Wir sind in Syrien vor dem Tod geflohen", sagt Mohammad Khoury, "nun verfolgt uns der Tod hier im Libanon." Jeden Tag frage er sich, wie lange er noch überleben könne. Endlich weg aus Beirut - das ist sein größter Wunsch.
Bedrückt sitzt der 18-jährige Syrer in der fensterlosen Kellerwohnung im Stadtteil Gemmayzeh, die er sich seit kurzem mit seinem Bruder und dessen Familie teilen muss. Sein bisheriges Zuhause wurde Anfang August bei der großen Explosion in Beirut zerstört. Ein Schicksal, das er hier mit vielen teilt: Einheimische sind ebenso von Obdachlosigkeit betroffen wie Geflüchtete.
Mohammad kommt aus einem kleinen Dorf in Nordosten Syriens. Mit 14 Jahren begibt er sich dort auf die gefährliche Flucht vor Krieg und Vertreibung und landet im benachbarten Libanon. Er ist mehrere Tage unterwegs, als er die Grenze erreicht. Dort wird er zunächst verschleppt und in einem Keller festgehalten. "Entweder Du zahlst oder Du stirbst!", so das Ultimatum der unbekannten Entführer. Am Ende hat er es geschafft, zumindest bis hierher.
Leben in ständiger Angst
Seit vier Jahren lebt Mohammad nun schon in Beirut - ohne legalen Aufenthaltsstatus und in ständiger Angst, erneut drangsaliert zu werden oder zurück in seine Heimat zu müssen. Immer wieder wurde er in den vergangenen Jahren von lokalen Behörden festgenommen und verhört, einmal auch eingesperrt.
Dabei ist Mohammad Khoury nur einer von schätzungsweise 1,5 Millionen syrischen Flüchtlingen im Libanon - dem Land, das im prozentualen Verhältnis zur Gesamtbevölkerung weltweit die meisten Geflüchteten beherbergt. Doch nicht erst seit der verheerenden Explosion in Beirut Anfang August ist die Situation für die Flüchtlinge im Libanon besonders prekär: Seit Ausbruch der Wirtschaftskrise im Herbst 2019 hat die Währung massiv an Wert verloren, Geschäfte mussten schließen, tausende Libanesen haben ihre Arbeit verloren. Für das Schicksal von Geflüchteten hat angesichts zunehmender Armut unter den Einheimischen und andauernder Proteste gegen korrupte Politiker und Behörden kaum noch jemand Zeit, geschweige denn die notwendigen Mittel.
"Überleben ist größte Herausforderung"
Laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR stehen im Libanon heute praktisch keinerlei Ressourcen mehr zur Verfügung, um Geflüchteten zu helfen. Der Anteil der Flüchtlinge, die in extremer Armut leben müssen, liege inzwischen bei mehr als 75 Prozent. "Die größte Herausforderung für Geflüchtete besteht derzeit schlichtweg im Überleben", bilanziert Dalal Harb vom UNHCR in Beirut.
Auch Mohammad möchte überleben. "Aber wenn ich im Libanon bleibe, werde ich hier irgendwann verhungern", sagt er, "und wenn ich zurück nach Syrien gehe, muss ich befürchten, dass ich von der syrischen Armee gefangen genommen werde." Er sucht deshalb nach einer neuen Zukunft jenseits von Libanon und Syrien und plant bereits seit Wochen seine Flucht in die Türkei.
Dafür müsste Mohammad allerdings syrisches Staatsgebiet durchqueren, davor hat er Angst. Denn er würde sein Leben damit einem großen Risiko aussetzen, wie er aus Erfahrungen anderer Flüchtlinge weiß, die nach ihrer Rückkehr mit ungewissem Schicksal verschollen blieben. "Manche meiner Freunde sind auf der Flucht verschwunden, andere nicht. Ich hoffe einfach, dass ich zu denen gehören werde, die nicht verschwinden werden", sagt er und lächelt bitter.
"Ich möchte lernen und nicht betteln"
Deshalb möchte Mohammad auch seinen wahren Namen nicht veröffentlicht sehen und nutzt ein Pseudonym. Aus Angst um das eigene Überleben, sagt er.
Mohammads Angst um das eigene Überleben ist seit der Explosion der 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen noch einmal enorm angestiegen. Er selbst kam an jenem 4. August zwar mit dem Schock und ein paar leichteren Verletzungen davon. Doch er verlor neben seiner Wohnung auch seinen Job und ist nun komplett ohne Einkommen. Er sehnt sich nach einem Leben in Würde und zumindest relativem Wohlstand. "Ich bin jung", sagt er. "Ich möchte lernen und nicht betteln." Er fühlt sich hilflos und alleingelassen im Libanon.
Mehr als 200.000 Flüchtlinge leben nach Angaben des UNHCR alleine in Beirut. Nicht nur Mohammad, auch andere planen ihre Flucht, wie der Syrer Ghassan al-Rabii mit seiner sechsköpfigen Familie.
Seit 2013 leben die al-Rabiis unter widrigsten Verhältnissen in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Beirut. Die 12-jährige Tochter Batul leidet unter Diabetes und Trisomie 21, bekannt als Down-Syndrom - in Syrien hätte es für sie keine Zukunft gegeben, sagt der Vater. Es fehle an Strom, medizinischer Versorgung und Sicherheit, auch deshalb sind sie damals geflohen.
Doch auch im Libanon könnte die Familie ohne Unterstützung nicht überleben. Darum kümmert sich bei ihnen ein christliches Hilfswerk aus Europa, die "Federazione delle Chiese Evangeliche in Italia" (FCEI).
Hani Alagba arbeitet für die FCEI. Auch er beobachtet, dass immer mehr syrische Familien unter die Armutsgrenze fallen. "Im Laufe des letzten Jahres hat sich die Lage sehr verschlechtert, die NGOs haben große Schwierigkeiten, Flüchtlingen überhaupt noch Hilfe zu leisten", sagt er. Auch Suheir El Ghali, Mitarbeiterin des libanesischen Sozialministeriums und Dozentin an der Lebanese University, spricht von einer "besonders belastenden Situation" für die Flüchtlinge: "Sie haben keine Heimat mehr, niemand unterstützt sie."
Aufbruch nach Europa
Hinzu kommt der durch die Wirtschaftskrise verschärfte Konkurrenzkampf auf dem Arbeitsmarkt. Trotz aller Gastfreundschaft: Syrische Arbeiter müssen oft unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten und sehen sich nicht selten Diskriminierung und Anfeindungen ausgesetzt. Das Verhältnis zwischen Einheimischen und Flüchtlingen habe sich leider schon lange vor der Explosion verschlechtert, klagt Familienvater Ghassan al-Rabii. Doch er und seine Familie haben Glück gehabt.
Das italienische Hilfswerk, das die Familie betreut, hat ihnen mit Hilfe einer französischen Partnerorganisation über das Programm "Humanitarian Corridor" ein Visum für Frankreich besorgen können.
Anders als Mohammad Khoury, der noch einiges Geld sparen muss, um einigermaßen sicher die Flucht Richtung Türkei wagen zu können, blickt Familie al-Rabii nun zuversichtlich auf eine bessere Zukunft in Europa und lernt bereits eifrig französische Vokabeln. Sie haben es geschafft.