Flucht ins Internat
20. August 2007Vom Boot aus erscheint das Pfahldorf Sotchanhoué wie eine ruhige Insel in einem Meer aus Seehyazinthen. Knapp dreißig Kilometer trennen die Wirtschaftsmetropole Cotonou von der Anlegestelle am Nokoué-See, und das Großstadtgetümmel scheint sehr weit weg zu sein. Ausgerechnet diesen nur mit einer Piroge erreichbaren Ort hat sich Schwester Marie-Regina ausgesucht, um 1986 vor Anker zu gehen. Seit über zwanzig Jahren leitet sie das Zufluchtsheim Maria Goretti für zwangsverheiratete Mädchen.
Die Schlauen flüchten
Im westafrikanischen Benin sieht das Gesetz vor, dass ein Mädchen erst ab 20 Jahren heiraten darf. In der Praxis sind Zwangs- und Frühehen in mindestens zehn der zwölf Regionen des Landes allerdings keine Seltenheit. Obwohl die Tendenz dank der langjährigen Aufklärungsarbeit vieler NGOs eher rückläufig ist, werden immer noch viele Mädchen unter 18 zwangsverheiratet. Die Betroffenen finden in Heimen wie dem "Centre Maria Goretti" im südbeninischen Sotchanhoué Zuflucht. Dort nimmt sie Schwester Marie-Regina in Schutz und bietet ihnen hauswirtschaftliche Ausbildung und somit einen besseren Start ins Leben.
Der Impuls zur Zwangsverheiratung kommt nicht unbedingt von den Eltern der Mädchen. Mitunter werden sie gedrängt von Verwandten oder Bekannten, deren Freunde es gerne hätten, dass ein Mädchen zu ihnen zieht. Beide Familien nähern sich an, ohne dass das Mädchen es erfährt. Es passiert oft, sobald das Mädchen geschlechtsreif geworden ist. "Diejenigen, die schlauer sind, kommen vor der Hochzeit zu uns", sagt Schwester Marie-Regina. "Aber die Anderen, die gar nichts ahnen oder ganz plötzlich zwangsverheiratet wurden, verlassen ihren Mann, um zu uns zu kommen, wenn sie ihren Ehemann nicht mögen. Manchmal werden sie festgebunden oder gefesselt zu ihrem Bräutigam gebracht. Dann bemühen sie sich, möglichst schnell zu entkommen."
Zusammenarbeit mit Behörden
Schwester Marie-Reginas Schützlinge sind zwischen 12 und 18 Jahre alt. Tag und Nacht stehen ihnen die Türen des "Centre Maria Goretti" offen. Meistens kommen die Mädchen aus Nachbardörfern, manchmal aber auch von weiter entfernt. Als Erstes werden sie von einem Arzt untersucht, der ihren allgemeinen Gesundheitszustand prüft. Manchmal wird dabei ein ärztliches Attest über die Feststellung einer Körperverletzung erstellt. In Zusammenarbeit mit den Zivilbehörden leiten die Schwestern dann Ermittlungen ein. Die Behörde schickt den Eltern eine schriftliche Aufforderung zu einer Gegenüberstellung mit ihrer Tochter.
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Wenn diese Konfrontation scheitert oder die Sicherheit des Mädchens innerhalb der Familie nicht gewährleistet ist, wird es im Internat aufgenommen - mit Genehmigung der Behörden. Während der rechtlichen Schritte bleiben die jungen Frauen bei den Schwestern, bis sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben. Im ersten Jahr der insgesamt vier Jahre langen Lehre lernen sie zunächst Allgemeines über Gesundheit, Familienplanung und Haushaltstätigkeiten. Später können sie einen Beruf erlernen. "Entweder das Frisörhandwerk, oder Schneidern oder Weben", erklärt Marie-Regina. "Dann wird ihnen Lesen und Schreiben beigebracht, sowohl in der lokalen Sprache Fon, als auch in Französisch."
Unbekannte Amtssprache
Obwohl Französisch die offizielle Amtssprache Benins ist, sind die meisten jungen Frauen dieser Sprache nicht mächtig. Schwester Marie-Yvonne hilft ihnen dabei, diese Wissenslücke zu schließen: "Die meisten Mädchen haben noch nie eine Schule besucht. Ich gebe ihnen Französisch-Unterricht: Wie stellt man sich vor? Wie empfängt man Gäste? Wie wäscht man seine Wäsche? All diese Sachen lernen sie von mir auf Französisch."
Mit 73 Schülerinnen in einer Klasse sind die Lernbedingungen nicht optimal. Wie Schwester Marie-Regina betont, ist das Internat zwar mehr als voll, denn alle Mädchen in Not – egal welcher Glaubensrichtung und Herkunft – werden aufgenommen. "Jetzt ist das Heim überlastet", sagt Marie-Regina. "Der Schlafsaal ist voll, die Betten stehen dicht aneinander. Früher ließen wir nicht zu, dass zwei Mädchen im selben Bett schlafen, aber jetzt können wir nicht anders, als ein Auge zuzudrücken: Wir können kein Mädchen zurückweisen, das in Gefahr ist."
Lieben lernen
Für die Schwestern ist die Resozialisierung der Mädchen erst dann richtig gelungen, wenn wieder eine Beziehung zu den Eltern besteht. Die Schwestern versuchen deshalb, die Eltern zu überreden, den Kontakt zu ihrer Tochter wieder aufzunehmen, damit sie sich irgendwie versöhnen können. Das Mädchen könne dann seine Eltern wieder sehen, und die Eltern haben die Möglichkeit, das "Centre Maria Goretti" zu besuchen."
Der Abschluss als offizielle Anerkennung der Leistungen sei wichtiger Bestandteil jenes Versöhnungsprozesses, meint Schwester Marie-Regina. Schließlich seien alle Eltern stolz auf ihre Tochter, wenn diese in der Lage ist, die Wogen des Lebens selbstständig zu meistern. "So können wir den Eltern erklären, was man mit einem Mädchen nicht machen sollte", sagt Marie-Regina. "Um glücklich verheiratet zu sein, muss eine Frau ihren Mann erst lieben lernen. Sie wird ihr ganzes Leben bei ihrem Mann verbringen, also muss sie ihn lieben oder ihn wenigstens kennen, bevor sie zu ihm zieht."