"Mutter kommt bald wieder"
27. Juli 2013
Haeng-Ja Fischers unbeschwerte Kindheit endet an einem Sonntagmorgen. Sie ist gerade sechs Jahre alt und lebt mit ihrer Familie in Jeollabuk-do, einer Provinz gut 200 Kilometer südwestlich von Seoul. Der Vater arbeitet bei der Polizei, der Familie geht es gut. Bis am 25. Juni 1950 nordkoreanische Truppen den Süden angreifen und der Krieg über die Halbinsel hereinbricht. "Wir wollten es nicht wahrhaben. Es kam einfach so plötzlich", sagt Haeng-Ja Fischer. Anfangs weiß sie überhaupt nicht, was der Begriff Krieg bedeutet. Doch das ändert sich schnell.
63 Jahre liegt der Beginn des Korea-Krieges mittlerweile zurück. Trotzdem kann Haeng-Ja Fischer sich noch genau erinnern, wie es damals war. Ohne zu stocken erzählt die zierliche Frau, wie sie von einem Tag auf den anderen ihr bisheriges Leben hinter sich lassen musste. Der Vater will, dass seine Frau und die Kinder in die Berge zu Verwandten gehen. Dort sei es sicherer. "Zusammen mit meiner Mutter, meiner vierjährigen Schwester und dem zwei Monate alten Bruder sind wir los gewandert. Wir sind den ganzen Tag gelaufen, ungefähr zwölf Kilometer weit." Eine lange Strecke für die beiden kleinen Mädchen. Immer wieder müssen die Frauen die erschöpften Kinder zum Weitergehen ermuntern. Auch mit Tricks. "Meine Großmutter sagte: 'Ach Mädchen, halt noch ein bisschen durch, nur noch um diese Ecke, dann sind wir da.' Und so sind wir dann irgendwann angekommen."
Allein mit der Angst
Er selbst könne noch nicht sofort mit, da es als Polizist seine Pflicht sei, die Regierung zu schützen, hatte der Vater gesagt. Aber er werde bald nachkommen. Der Vater will ganz in den Südosten der Koreanischen Halbinsel, nach Pusan. Die zweitgrößte Stadt des Landes fungiert während der Kriegsjahre als Regierungssitz. Ungefähr drei Wochen vergehen, ohne dass die Familie etwas vom Vater hört. Im Land toben die Kämpfe, weite Teile Südkoreas sind mittlerweile in der Hand der gegnerischen Truppen. Dann kommen eines Tages nordkoreanische Soldaten auf den Bauernhof, wo sich die Frauen und Kinder in einer Scheune aufhalten.
"Sie nahmen meine Mutter und meinen Bruder mit zum Verhör. Sie wollten wissen, wo mein Vater steckt." Haeng-Ja Fischers Stimme bricht, als sie weiter spricht. Sie wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. "Ich musste auf meine kleine Schwester aufpassen. Sie konnte nachts nicht schlafen, weinte und rief nach unserer Mutter. Ich habe sie getröstet und gesagt: 'Mutter kommt bald nach Hause'." Worte, mit denen sie nicht nur ihre Schwester beruhigen will, sondern nicht zuletzt auch sicht selbst. Sie habe vor Sorge nichts zu sich nehmen können, erinnert sie sich. "Jahre später erzählte mir dann ein Nachbar, der damals vorbeikam um uns etwas zu Essen zu bringen, ich hätte keinen Bissen angerührt." Zu erdrückend ist die Angst, die Eltern nicht wiederzusehen.
Plötzlich Halbwaise
Die Mutter kehrt von dem Verhör zurück, ihren Vater allerdings sieht Haeng-Ja Fischer nie wieder. Er fällt innerhalb der ersten beiden Kriegsmonate, wird von nordkoreanischen Soldaten erschossen. Die Familie erfährt über Bekannte von seinem Tod. Gemeinsam mit einer Tante macht sich die Mutter auf die Suche nach ihrem Ehemann, Haeng-Ja bleibt mit den kleinen Geschwistern allein, passt auf sie auf. Um sich selbst habe sie eigentlich nie Angst gehabt während des Krieges, nur um Bruder und Schwester. Eine bis heute prägende Erfahrung, sagt sie rückblickend. "Ich denke immer noch, ich müsste die beiden unterstützen."
Nach ein paar Tagen finden Mutter und Tante tatsächlich den Leichnam, begraben ihn provisorisch und kennzeichnen die Stelle. "Nach dem Waffenstillstand drei Jahre später haben wir ihn dann richtig beerdigen können. Und jedes Jahr zum Erntedankfest gingen wir an sein Grab." Weil er für sein Land gestorben sei, habe er einen guten Platz bekommen auf dem Nationalfriedhof von Seoul, sagt sie. Es fällt ihr sichtlich schwer, darüber zu sprechen. Immer wieder fährt sie sich mit der Hand über die Augen.
Neuanfang nach Kriegsende
Der Rest der Familie bleibt zusammen, bis der Krieg vorbei ist. Schon vor der Unterzeichnung des Waffenstillstands am 27. Juli 1953 sucht die Mutter nach Arbeit - um sich und ihre Familie ernähren zu können. "Sie hatte glücklicherweise einen Mittelschulabschluss, das war selten damals." Aufgrund ihrer Qualifikation findet sie eine Stelle bei der Polizei. Haeng-Ja geht nach dreijähriger Unterbrechung wieder zu Schule. "Obwohl Korea nach dem Krieg ein armes Land war, hat der Staat angefangen, Waisen- und Halbwaisenkinder zu unterstützen. Wenn ich in der Schule gute Leistungen erbracht habe, musste ich kein Schulgeld bezahlen." Die Polizei spielte für Haeng-Ja damals eine ganz besondere Rolle. "Wenn ich Schulsachen brauchte, konnte ich zum Polizeipräsidenten gehen." Dort musste sie ihre Zeugnisse vorlegen und bekam im Gegenzug Geld ausgezahlt, um die benötigten Utensilien zu kaufen. "Das hat mich sehr stolz gemacht. Ich hatte das Gefühl, dadurch noch immer mit meinem Vater verbunden zu sein, obwohl er nicht mehr da war."
Haeng-Ja Fischer beendet die Schule mit der Mittleren Reife. Sie heiratet, bekommt eine Tochter und einen Sohn. Doch die Ehe ist unglücklich. 1969 entschließt sie sich, nach Deutschland zu gehen. Sie ist eine von 10.000 koreanischen Krankenschwestern, die von einer besseren Zukunft in der Bundesrepublik träumen. Haeng-Jas Traum allerdings ist mit einem großen Opfer verbunden: Als sie im Juli 1969 auf dem Köln-Bonner Flughafen landet, sind ihre Kinder noch in Korea bei der Großmutter. Es ist nicht erwünscht, dass Gastarbeiter ihre Familien mitbringen. "Ich habe meiner Mutter versprochen, dass ich sie nach drei Jahren nachholen würde. Und das habe ich pünktlich getan." Die Zeit ohne die beiden sei sehr schwer gewesen, sagt sie. Zwei- oder dreimal habe sie mit ihnen telefonieren können, mehr nicht.
Ein zweites Leben in Deutschland
Haeng-Ja Fischer bleibt ihrem ersten Arbeitgeber in Deutschland, dem Bochumer Josef-Hospital, bis zur Pensionierung treu. Ihre Kinder wachsen im Ruhrgebiet auf, studieren, gründen eigene Familien. Sie selbst will eigentlich keine neue Beziehung mehr eingehen. Doch dann - als Sohn und Tochter bereits aus dem Haus sind - lernt sie einen deutschen Mann kennen. Und lieben. Auch er hat zwei Kinder. "Zusammen bringen wir es mittlerweile auf zehn Enkel", berichtet sie mit einem stolzen Lächeln.
Haeng-Ja Fischer fühlt sich längst heimisch in Deutschland. Sie sei zu Hause in zwei Kulturen, sagt sie. Doch die Entbehrungen der Kriegszeit sind haften geblieben. Bis heute kann sie kein Essen wegwerfen und kocht immer nur soviel, wie sie auch wirklich braucht. Wenn sie spazieren geht und am Wegesrand Löwenzahn oder Beifuß wachsen sieht, hat sie den Geschmack der Pflanzen auf der Zunge. "Ich habe damals immer viel davon gepflückt, und wenn ich nach Hause kam, lobte meine Großmutter meinen Fleiß und sagte: 'Da haben wir heute Abend etwas zu essen'."
Schwelende Krise in Korea
Die Entwicklungen der vergangen Monate, die zunehmenden Spannungen auf der koreanischen Halbinsel, die teilweise täglich neuen Schlagzeilen - all das verfolgt Haeng-Ja Fischer mit großer Sorge. "Weil ich Krieg selbst erlebt und mit meinen eigenen Augen gesehen habe, denke ich: Mein Gott, das darf nicht wieder passieren."
Obwohl sie sagt, dass die Erinnerungen an den Korea-Krieg in ihrem Alltag normalerweise kaum eine Rolle spielen: Das traumatischste Erlebnis ihrer Kindheit hat sie nie losgelassen. Die Sehnsucht nach ihrem Vater ist auch Jahrzehnte später groß. So groß, dass sie am Ende ihres eigenen Lebens unbedingt wieder bei ihm sein möchte. Nach ihrem Tod will Haeng-Ja Fischer verbrannt werden. Ihren Kindern hat sie gesagt, sie sollten einen Teil der Asche in Deutschland behalten. Der andere Teil soll verstreut werden: auf dem Nationalfriedhof in Seoul, um das Grab ihres Vaters herum.