Muss Steudtner für zehn Jahre hinter Gitter?
25. Oktober 2017Begleitet von Protestdemonstrationen hat in Istanbul der Prozess gegen den deutschen Aktivisten Peter Steudtner und zehn weitere Menschenrechtler begonnen. Angeklagt vor dem Gericht im Istanbuler Stadtteil Caglayan sind neben Steudtner unter anderen der schwedische IT-Spezialist Ali Gharavi, die Direktorin von Amnesty International in der Türkei, Idil Eser, und der Vorsitzende der Organisation in der Türkei, Taner Kilic.
In dem Gebäude herrschte großes Gedränge, da Angehörige, Anwälte und Journalisten versuchten, in den Gerichtssaal zu gelangen, wie ein Reporter von Agence France Press (afp) berichtete. Viele türkische Bürgerrechtler nahmen als Beobachter teil. Auch der deutsche Generalkonsul Georg Birgelen und sein französischer Kollege Bertrand Buchwalter waren anwesend.
Der Anwalt Kilic war im Juni in Izmir unter dem Verdacht festgenommen worden, zur verbotenen Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen zu gehören. Die anderen Menschenrechtsaktivisten waren Anfang Juli bei einem Workshop über Cybersicherheit in einem Hotel auf der Insel Büyükada vor Istanbul abgeführt worden. Steudtner und der Schwede Gharavi waren als Trainer zu dem Seminar eingeladen.
Steudtner: Ich bin unschuldig
Steudtner wies vor den Richtern die Terrorvorwürfe gegen ihn entschieden zurück. "Ich habe nie in meinem Leben irgendeine militante oder terroristische Organisation unterstützt", sagte er. Der Deutsche verteidigte sich auf Englisch, eine Übersetzerin übersetzte die Aussagen ins Türkische. Seine Arbeit als Menschenrechtstrainer sei in den vergangenen 20 Jahren stets auf Menschenrechte, Gewaltfreiheit und Friedensbildung ausgerichtet gewesen. Sein Fokus habe zudem auf afrikanischen Ländern gelegen.
Er habe in den vergangenen fünf Jahren in Mosambik, Angola, Kenia, Palästina, Nepal und Myanmar gearbeitet. "Ich habe mich nie auf türkische Organisationen konzentriert oder mit ihnen gearbeitet", betonte Steudtner. Er bedankte sich zudem beim Gericht, dass er die Möglichkeit dazu habe, sich zu verteidigen. Er wiederholte seine Bereitschaft zur Mitarbeit bei dem juristischen Prozess.
Spekulationen über Strafmaß
Die Vorwürfe gegen die Inhaftierten sind im Detail nicht bekannt, da die Anklageschrift als geheim eingestuft ist. Allerdings veröffentlichten regierungstreue Zeitungen diverse Details. Demnach drohen ihnen 15 Jahre Haft wegen "Unterstützung einer Terrororganisation". Gemeint sind die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die linksradikale DHKP-C und die Gülen-Bewegung, die in der Türkei als Terrororganisationen gelten.
Auch Amnesty International fürchtet, die Aktivisten könnten für bis zu 15 Jahre hinter Gittern verschwinden. Die Anwälte Steudtners und seines schwedischen Kollegen Gharavi gehen allerdings davon aus, dass ihren Mandanten lediglich Terrorunterstützung vorgeworfen wird, was mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft werden könnte.
Wohin geht Erdogans Türkei?
Der Europadirektor von Amnesty International, John Dalhuisen, sagte vor Prozessbeginn in Istanbul, es sei "ein Prozess über die Lage der Menschenrechte in der Türkei und die Lage des türkischen Justizsystems". Die Leute fragten sich, in welche Richtung sich die Türkei bewege. Wenn es so weitergehe, werde die Türkei als "Schurkenstaat" verstanden werden, der immer autoritärer werde, sagte Dalhuisen.
Steudtner hatte sich vor Prozessbeginn "sehr froh" gezeigt, dass die Anklageschrift vorliegt und die nächsten rechtlichen Schritte feststehen. "Die Zeit hier ist aushaltbar, gerade weil die Solidarität um mich herum so stark ist - dazu zählen insbesondere auch die Andachten in nah und fern", schrieb der 46-Jährige aus dem Gefängnis. "Vertrauen ist für mich der Schlüssel, diese Situation zu überstehen." Dieses Vertrauen habe er.
Elf deutsche politische Gefangene
Steudtners Anwalt Murat Deha Boduroglu nannte die Vorwürfe "kompletten Unsinn", sie entbehrten jeder Grundlage. Sein Mandant sitzt ebenso wie der "Welt"-Korrespondent Deniz Yücel in der Haftanstalt Silivri bei Istanbul. Derzeit sind elf Deutsche aus politischen Gründen in der Türkei in Haft.
Die Bundesregierung hat die Vorwürfe gegen Steudtner als nicht nachvollziehbar bezeichnet und dringt auf seine Freilassung. Die türkische Regierung verweist auf die Unabhängigkeit der Justiz, doch bezeichnete Präsident Recep Tayyip Erdogan Steudtner als deutschen "Agenten".
SC/ww (afp, rtr, dpa)