Musik, die durch den Magen geht
15. Juni 2014Kann man Bach schmecken oder Villa Lobos riechen? Melinda Lee Masur und Ken-David Masur glauben daran. Auch im fünften Jahr ihres immer noch kleinen und feinen Festivals im hippen New Yorker Stadtteil Chelsea haben die beiden Masurs wieder Musiker, Komponisten, bildende Künstler und einen Chefkoch zusammengebracht, um ein Zusammenspiel der Sinne zu inszenieren.
Hören, Sehen und Schmecken
"Das ist wirklich eine Inspiration für uns,“ erzählt Melinda Lee Masur, die selber Pianistin ist und natürlich auch beim Festival auftritt. "Es ist ein lustvolles Miteinander verschiedener Gattungen", verspricht sie für die zehn Konzerte. Im Mittelpunkt steht Musik aus Brasilien und Deutschland mit Kompositionen der Jubilare Richard Strauss und Carl Philipp Emanuel Bach sowie dem populärsten brasilianischen Komponisten Heitor Villa-Lobos. Der deutsche Chefkoch Hinnerk von Bargen ist in diesem Jahr "Culinary Artists in Residence" und hat im Vorfeld viel Musik gehört, um sich für seine Gerichte inspirieren zu lassen.
Banane zum brasilianischen Jazz
Im letzten Konzert des Festivals geht es beispielsweise um brasilianischen Jazz. "Das Essen, das damit zusammenhängt, muss farblich lebhaft, darf auf keinen Fall steif sein", sagt von Bargen, zur Zeit Leiter des "Culinary Institute of America" im Texanischen San Antonio. Unter anderem wird der Chefkoch hierzu frittierte Bananen servieren. Das klingt zunächst etwas brav, doch das Rezept hat es in sich: Von Bargens Banane wird in Buttermilch getaucht und dann in Manjok-Mehl gewälzt, danach mit Zimt, Zucker und Meersalz bestrichen.
Kochkünste und Cateringservice
Ken David Masurs Konzept, die menschlichen Sinne ganzheitlich anzusprechen, stellt das kleine Festivalteam vor gewaltige Herausforderungen: "Die Kochkünste zu integrieren bedeutet, dass man sein eigener Cateringservice wird, seine eigene Küche hat. Das war ein Riesenaufwand."
Schon vor dem Konzert mit dem Knabenchor collegium iuvenum Stuttgart duftet es in den Räumen der deutsch-lutherischen Kirche St. Paul nach köstlichem Braten. Chef von Bargen hat für die Chorknaben etwas Besonderes auf den Tisch gebracht: Die aufgeführten Vokalwerke von Beethoven, Carl Philipp Emanuel Bach und Felix Mendelssohn Bartholdy sind für ihn eher "klassisch", seine Gerichte deshalb "aus der klassischen Küche des Mittleren Westens der USA".
Schweinerücken mit Bohnen
Einen Salat serviert er den Chorknaben, dann als Hauptgang gebratenen Schweinerücken mit Bohnen: "Klassische Gerichte, wie man sie auch vor 300 Jahren hier vorgefunden hätte“, sagt von Bargen. "Es ist vorwiegend eine Küche aus Wisconsin mit starkem deutschen Einschlag."
Ungefähr 100 Menschen sind an diesem Abend zum Konzert des Stuttgarter Knabenchors in die heimelig ausgeleuchtete neugotischen Kirche St. Paul gekommen. Sie hören fein gesungene Chormusik im ersten Teil, danach "Voices of the Winds", eine den Klang von Blasinstrumenten mit der menschlichen Stimme verschmelzende New Yorker Erstaufführung des brasilianischen Komponisten Felipe Lara. Nach dem Konzert lassen sie sich dann gerne kulinarisch verwöhnen.
Essen schafft Zugang zur Musik
Doch Melinda Lee Masur stellt im Gespräch mit der Deutschen Welle klar, dass es ihr und ihrem Mann vor allem um die Musik geht: "Die anderen Kunstformen wie Bilder oder Essen schaffen Zugänge zur Musik." Insbesondere das Genre, das beim Chelsea Music Festival im Zentrum steht, die ach so spröde Kammermusik, könne davon profitieren. Das Festival könne auf diese Weise zeigen, "wie faszinierend Kammermusik ist. Da denken viele ja gleich: Oh Gott, das verstehe ich nicht. Ich kann da nicht hingehen."
Die Zahl der Festivalbesucher ist zumindest an einigen Abenden eher handverlesen, auch beim Kammerkonzert im Auditorium der New School, einem modern-kompakten Bau des Architekten Joseph Urban. An diesem Abend führt das deutsche Amaryllis Quartett verstärkt um lokale Musiker und die Sängerin Adrienne Pardee Werke von Brahms bis Schönberg auf, darunter auch Lieder von Felix Mendelssohn Bartholdy, für die Aribert Reimann mit seinen hinzu komponierten Vor- und Zwischenspielen einen kunstvollen zeitgenössischen Rahmen entwarf.
Chelsea entdecken
Die Programme des Festivals sind anspruchsvoll, die Künstler unbekannt und die Konzertorte wechselnd. Das erschwert die Vermarktung, ist aber auch reizvoll. Und die Sponsoren ziehen mit - darunter auch deutsche Firmen wie die Lufthansa, BMW und Radeberger.
"Wir wollten Chelsea entdecken und es gibt so viele kleine Orte, von denen wir noch nichts wussten. Und wir leben schon lange in New York“, erklärt Ken-David Masur. Dieses Jahr findet sein Festival an acht Konzertorten statt: Kirchen, Galerien und Museen.
Gespräche mit dem Vater
So sorgfältig und detailverliebt wie die Auswahl der Aufführungsorte und die Gestaltung der einzelnen Konzerte ist auch die konzeptionelle Arbeit des Ehepaars Masur. Für jeden Konzertort denken sie sich ein passendes Programm aus. Und manchmal spielen da dann auch ganz persönliche Beweggründe eine Rolle. Dass Brasilien neben Deutschland zum Festivalschwerpunkt erkoren wurde, hat nicht nur mit der Fußballweltmeisterschaft und unerwarteten Bezügen zur deutschen Musikkultur zu tun. "Hinzu kommt, dass meine Eltern sich in Rio de Janeiro getroffen haben", sagt Ken-David Masur.
Er selber wurde in Leipzig geboren. Sein berühmter Vater Kurt Masur leitete dort über Jahrzehnte das Gewandhausorchester: Vor der Wende hatte er gemeinsam mit anderen mutigen ostdeutschen Prominenten verhindert, dass die Leipziger Montagsdemonstrationen in einem Blutbad endeten. Dieser Nimbus war es dann auch, der ihn später nach New York an die Spitze des New York Philharmonic Orchestra brachte. Die Familie ging mit. Ken-David besuchte hier die Deutsche Schule. Und das Haus der Masurs in der Nähe der Schule ist heute noch in Familienbesitz.
New York, New York
Seine Frau Melinda sagt, ihr Mann habe "wunderbare Eltern, die uns lieben und unterstützen - musikalisch und persönlich“. Sie sprechen oft über Musik. Bis nach Chelsea zum Musikfestival des Sohnes hat es der gebrechliche Kurt Masur aber noch nicht geschafft. Doch der Kontakt ist auch über den großen Teich hinweg nicht abgerissen. Schließlich hat der Sohn den gleichen Beruf wie der Vater ergriffen: Er arbeitet als Dirigent im kalifornischen San Diego und ist vor kurzem zum stellvertretenden Dirigenten des Boston Symphony Orchestra berufen worden: "Wenn es um die reguläre Saison geht, frage ich meinen Vater: Hast du die Sachen schon mal gemacht? Lass uns darüber sprechen.“
Aber bei seinem eigenen Festival, so Ken-David Masur, sei das anders. "Da haben wir immer sehr viel Gesprächsstoff."