Das afghanische Phantom
24. Mai 2011Mullah Mohammed Omar ist ein Mann ohne Gesicht und seit fast zehn Jahren abgetaucht. Selbst bei den wenigen Fotos, die es von ihm gibt, ist nicht mit letzter Sicherheit geklärt, ob sie wirklich sein Gesicht zeigen. Als verbrieft gilt, dass ihm ein Auge fehlt. Er verlor es während des afghanischen Freiheitskampfes gegen die sowjetische Besatzung in den 1980er Jahren. Als vermutetes Geburtsjahr des weitgehend Unbekannten wird oft 1959 genannt.
Die USA suchen den untergetauchten Mullah Mohammed Omar seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001, weil der Führer der afghanischen Taliban-Bewegung ein williger Gastgeber für das Al-Kaida-Netzwerk war. Ohne die Gastgeberrolle der afghanischen Taliban für Osama bin Laden hätte es vermutlich keinen westlichen Militäreinsatz gegen das islamistische Regime in Kabul gegeben - trotz aller Menschenrechtsverletzungen.
Westliche Medienkontakte
Am 15. November 2001 veröffentlichte die britische BBC eines der ganz seltenen Interviews mit Mullah Omar, der fast immer andere für sich sprechen lässt. Das Interview war über das Paschtu-Programm des Senders zustande gekommen, Fragen und Antworten wurden jeweils über Telefon und Funkgerät übermittelt. Der Aufenthaltsort des Flüchtigen war streng geheim, die Journalisten hatten zu keinem Zeitpunkt direkten Kontakt. In diesem Interview spricht die krächzende Stimme, die zu Mullah Omar gehören soll, wiederholt von der "Zerstörung Amerikas". Dieses "höhere Ziel" sei "jenseits der menschlichen Vorstellungskraft und mit menschlichem Willen nicht zu erreichen". Es sei "keine Frage von Waffen", sondern "nur von Gottes Hilfe" abhängig.
Schon kurz nach dem 11. September 2001, als sich das westliche Eingreifen unter US-Führung noch abzeichnete, war es dem staatlichen US-Auslandsrundfunk "Voice of America" gelungen, mit Mullah Omar in Kontakt zu treten. Dem Sender wurde dann aber von der US-Regierung untersagt, das Interview auszustrahlen. Veröffentlicht wurde das etwa zwölfminütige Gespräch trotzdem - unter anderem als Abschrift von der britischen Tageszeitung "The Guardian". Darin geißelt Mullah Omar die USA dafür, den Islam "als Geisel" genommen zu haben und die Regierungen islamischer Länder zu kontrollieren. Es gehe nicht um die Auslieferung Osama bin Ladens, sondern "um den Islam".
Afghanisch-pakistanische Gerüchteküche
Mullah Omar hat im Gegensatz zu Osama bin Laden nie den direkten Weg in die Öffentlichkeit gesucht. Er hat immer aus dem Hintergrund agiert und sehr zurückgezogen gelebt - auch, als er de facto afghanischer Regierungschef war (1996-2001).
Seit dem Sturz des radikal-islamischen Taliban-Regimes Ende 2001 wird der Amir ul-Momineen ("Befehlshaber der Gläubigen") im pakistanischen Grenzgebiet zu Afghanistan vermutet. Als Sitz des obersten Rates der afghanischen Taliban (Schura) wird immer wieder die Provinzhauptstadt Quetta in Belutschistan genannt. Doch von dort soll Mullah Omar nach Angaben des afghanischen Geheimdienstes NDS verschwunden sein - und das schon seit mehreren Tagen, wie NDS-Sprecher Lutfullah Mashal auf einer Pressekonferenz am 23. Mai in Kabul sagte.
Die vom privaten afghanischen Sender Tolo TV verbreitete Nachricht, dass nach Osama bin Laden auch Mullah Omar in Pakistan getötet worden sei, wollte Mashal ausdrücklich nicht bestätigen, obwohl sich Tolo TV zuvor auf Quellen im NDS berufen hatte. Mashals Beharren auf der Abwesenheit Mullah Omars in Quetta wirft jedoch die Frage auf, warum über Jahre offenbar niemals ein Zugriff in Pakistan erfolgt ist, obwohl es ziemlich konkrete Hinweise auf den Aufenthaltsort des "Amirs" gegeben zu haben scheint.
Die Regierung von Präsident Karsai hat das Nachbarland von Anfang an beschuldigt, ein sicheres Rückzugsgebiet für Taliban und Al Kaida zu sein. Und so sehr sich der Verdächtigte darüber auch empört: Aus Kabul heißt es immer wieder, Pakistan unterstützte den Terrorismus, um Afghanistan schwach zu halten, damit Islamabad seinen Einfluss am Hindukusch nicht verliert. Durch die tödliche US-Kommandoaktion gegen Al-Kaida-Führer Osama bin Laden am 2. Mai in Abbottabat hat sich die afghanische Regierung bestätigt gefühlt und in aller Öffentlichkeit triumphiert.
Terroristen und aufständische Taliban
Der Krieg gegen den Terror müsse nicht auf afghanischem Boden, sondern jenseits der Grenze geführt werden, wiederholt der afghanische Präsident Karsai gebetsmühlenhaft. Er hat die internationale Allianz schon mehr als einmal aufgefordert, ihre militärischen Aktionen in seinem Land zu beenden. "Wenn wir den Terror bekämpfen, steht das afghanische Volk auf der Seite der internationalen Gemeinschaft. Wir wissen alle, wo die Terroristen sind. Aber wenn es um den Aufstand geht, dann ist das eine afghanische Angelegenheit", so Karsai während seines London-Besuchs im März. "Ich wünsche keine Unterstützung durch ausländische Truppen gegen meine Landsleute."
Die afghanischen Taliban sind in seinen Augen Aufständische und damit eine rein innerafghanische Angelegenheit, was immer wieder zu Spannungen mit dem westlichen Bündnispartnern führt - vor allem dann, wenn westliche Militäraktionen auch Zivilisten töten.
Nach Angaben des afghanischen Präsidenten gibt es laufenden Kontakt mit Vertretern der Taliban. Namen fallen nicht. Karsai hat im vergangenen Oktober einen Hohen Friedensrat unter Führung des ehemaligen Präsidenten Rabbani ernannt, um direkte Gespräche mit der Taliban-Führung anzustoßen. Auch der Westen sucht den direkten Kontakt. Allen Entscheidungsträgern ist klar geworden, dass es in Afghanistan keine militärische Lösung geben wird, sondern dass ein befriedetes Afghanistan von einer Verhandlungslösung abhängt.
Die Phantom-Agenda
Nach allem, was bekannt ist, steht der untergetauchte Mullah Omar bis heute an der Spitze der afghanischen Taliban-Bewegung. Wer außer ihm zum engsten Taliban-Führungsrat gehört, ist nicht klar. Viele wichtige Figuren sind in den vergangenen Jahren ausgefallen, darunter die beiden in Pakistan verhafteten Mullah Obaidullah Akhund (2007) und Mullah Baradar (2010).
Der Westen sucht Kontakt zu den afghanischen Taliban, um einen möglichst schnellen und reibungslosen Abzug seiner Kampftruppen ohne Gesichtsverlust zu gewährleisten. Die Regierung Karsai will die Taliban in den innerafghanischen Dialog einbinden, weil es ohne den paschtunischen Süden keinen Frieden geben kann. Pakistan will die afghanischen Taliban als strategischen Bündnispartner gegen den Erzrivalen Indien nicht verlieren. Die pakistanische und afghanische Führung stehen sich misstrauisch bis feindlich gegenüber. Insofern haben alle Seiten ein Interesse daran, das Phantom Mullah Omar für die eigene politische Agenda zu benutzen.
Kaum war die Meldung über dessen mutmaßlichen Tod in Pakistan in der Welt, dementierte Islamabad. Außerdem meldete sich ein Taliban-Sprecher namens Zabiullah Mudschahed telefonisch bei verschiedenen Medien, um mitzuteilen, dass Mullah Omar in Afghanistan sei, "um den Dschihad zu führen". Er sprach von einer bewussten Falschmeldung westlicher Geheimdienste, um die Aufständischen zu spalten.
Was will das Phantom?
Wie sich die Bewegung um Mullah Omar und enge Verbündete wie das Haqqani-Netzwerk überhaupt ein zukünftiges Afghanistan vorstellen, ist unklar. Es gibt kein zusammenhängendes politisches Programm, das veröffentlicht worden ist. Vor dem 11. September 2001 ging es darum, "eine wahrhaftige islamische Ordnung" einzuführen und das kriegsgeschundene Land zu befrieden. Es ging darum, "Gottes Gesetz" auf afghanischem Boden durchzusetzen und ein Kalifat zu errichten.
Heute lautet das Nahziel, den Abzug der ausländischen Truppen zu erzwingen. Ob wichtige Mitglieder des Führungsrates bereit wären, für eine Verhandlungslösung fundamentalistisch-religiösen Ideen aufzugeben und sich auch von einer übersteigerten Führungsfigur wie Mullah Omar zu lösen, ist nicht bekannt. Fast zehn Jahre nach dem plötzlichen Zusammenbruch des afghanischen Taliban-Regimes durch die westliche Intervention erscheint vieles schemenhaft. Mullah Omar ist nicht das einzige Phantom.
Autorin: Sandra Petersmann
Redaktion: Marco Müller