Moskau will Obdachlosen mit Arbeit und Familie Wohnungen zur Verfügung stellen
14. Januar 2002Moskau, 9.1.2002, TRUD, russ., Nina Jegorschewa
Im neuen Jahr müssen auch die Obdachlosen ein neues Leben beginnen – das haben die Machtorgane der Hauptstadt beschlossen. Diejenigen, die bereits eine Arbeit gefunden und eine Familie gegründet haben, jedoch vorläufig in Nachtasylen leben, sollen bald Wohnungen bekommen. Wie die stellvertretende Leiterin der Abteilung Sozialwohnungen und Wohnungspolitik, Walentina Logunowa, der Korrespondentin von TRUD mitteilte, suche man derzeit nach einem geeigneten Haus. Aller Wahrscheinlichkeit nach werde das ein Apartmenthaus sein.
Letzten Angaben zufolge gibt es in Moskau derzeit etwa 40 000 Obdachlose. Aufgetaucht sind diese in der Hauptstadt nicht erst im letzten Jahrzehnt. So ist zum Beispiel die erste Aufnahmestelle für obdachlose Frauen in Moskau bereits im Jahr 1969 eingerichtet worden. Jetzt ist das die Aufnahme- und Verteilerstelle Nr. 2. Vom Butyrka-Gefängnis trennt sie nur ein Zaun aus Backstein mit Stacheldraht und ein kleiner Gefängnishof. In der Aufnahmestelle gibt es die gleichen Zellen und Pritschen, wie im Gefängnis. Mit dem einzigen unterschied, dass hier nicht Wiederholungstäter, sondern Obdachlose unterschiedlichen Alters aus den vergitterten Fenstern die Welt beobachten. Ihren Höhepunkt hatte die Zahl der Obdachlosen der Hauptstadt Anfang der 90-er Jahre erreicht, derzeit ist deren Zahl fast um die Hälfte zurückgegangen. Seit Anfang des Jahres ist die Annahmestelle von etwas über 1600 Frauen aufgesucht worden.
In einer der Zellen traf ich Galina Scherschnjowa. Auf 60 habe ich sie geschätzt, es stellte sich jedoch heraus, dass sie 40 Jahre alt ist. Galina war einst als Melkerin in einer Kolchose tätig. Trank maßlos, heiratete nie. Nach Moskau kam sie aus dem Gebiet Twer bereits 1995, von der Hauptstadt hat sie jedoch in den sechs Jahren kaum was gesehen. Sie kennt nur jeweils einen kleinen Platz vor drei Bahnhöfen, wo sie Flaschen sammelt, sowie die Annahmestelle, in die sie zum zweiten Mal geraten ist. Zum ersten Mal war sie hier letzten Sommer. Damals besorgten ihr die Milizionäre den längst verlorenen Ausweis und kauften ihr eine Fahrkarte. Das Dorf, in dem sie lebte, nahm sie jedoch ohne Freude auf, und ihre Mutter ließ sie nicht einmal über die Schwelle. Bereits zwei Tage später sammelte Galina erneut Flaschen auf dem Komsomolskij-Platz. "Sobald ich hier rauskomme, kehre ich wieder dorthin zurück. Mit den Flaschen verdiene ich 20 Rubel am Tag, für einen Leib Brot und eine Flasche Milch reicht das. Arbeiten will ich nicht", sagte Galina Scherschnjowa.
Das Schicksal vieler Frauen, die auf die Straße geraten sind, ist ähnlich. Erst 24 Jahre ist Swetlana aus der Nachbarzelle alt. Das Kinderheim in Kasachstan hat kaum etwas zu ihrer Erziehung beigetragen, sie jedoch zur Trinkerin werden lassen. Nachdem Swetlana dort ihre Volljährigkeit gefeiert hatte, begab sie sich nach Moskau. Übernachtete mal hier mal dort, stahl Taschen bei zerstreuten Passanten. Vor fünf Jahren wurde sie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. "Im Frühjahr kam ich auf freien Fuß, werde jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach zurückkehren, da ich nicht weiß, wo ich sonst unterkommen sollte", so Swetlana.
Auch andere Fälle gibt es. Von der 22-jährigen Marina erzählte mir der stellvertretende Leiter der Aufnahme- und Verteilungsstelle Nr. 2, Aleksandr Chochlow. Das Mädchen kommt aus dem Gebiet Irkutsk. Nach dem Tod ihrer Eltern lebte es bei seinem Onkel. Bei der ersten Gelegenheit wurde das Mädchen aus der ihm gehörenden Wohnung geworfen. Marina begab sich nach Irkutsk, nahm das Studium im pharmazeutischen Kollegium auf. Freundinnen lockten sie jedoch auf der Suche nach dem süßen Leben nach Moskau. Als Marina den Zug verließ, vergrub sie ihre Unterlagen in irgendeinem Blumenkübel. Nur den Ausweis behielt sie. Diesen nahmen ihr jedoch schon bald Zuhälter weg. Sie verkaufte sich auf den Bahnhöfen. Als sie in die Aufnahme- und Verteilerstelle geriet, suchten Milizionäre ihre vergrabenen Dokumente. Marina fand Arbeit – erst in einer Apotheke, später arbeitete sie nebenbei noch in einer zweiten. Die Frau, bei der sie derzeit in Untermiete wohnt, hat so viel Vertrauen zu Marina, dass sie sie offiziell in ihrer Wohnung angemeldet hat. Marina wird demnächst heiraten.
Marina ist jedoch eher eine Ausnahme. Einem so tief gefallenen Menschen fällt es schwer, von vorne anzufangen. Frauen fällt es aus vielen Gründen noch viel schwerer. Erstens geben sie sich schneller dem Trinken hin. Zweitens verlieren sie mit ihrem Gesicht auch den Glauben an sich selbst. "Das führt dazu", so Psychologen, die mit Obdachlosen arbeiten, "dass die Frauen schon bald aufhören, sich als Frauen zu fühlen. Sie schminken sich nicht, sehen nicht in den Spiegel."
Das Leben im Hinterhof, auf der Straße stellt viele auf die gleiche Stufe. Das Leben vergeht so schnell. Noch vor einem Vierteljahrhundert lebten die Obdachlosen im Durchschnitt 40 Jahre lang, heute werden viele Obdachlose der Hauptstadt nicht einmal 30 Jahre alt. Die Einwohner Moskaus, von denen viele gezwungen sind, jede Kopeke zu zählen, um über die Runde zu kommen, werfen kein getrocknetes Brot oder verschimmelte Wurst mehr weg. Nach Angaben der internationalen Organisation "Ärzte ohne Grenzen" ist bereits jeder dritte Obdachlose an Tuberkulose erkrankt. Dazu kommen noch Hepatitis, Aids, Syphilis, Gonorrhöe, psychische Störungen ... Der Obdachlose hätte vielleicht auch nichts dagegen, sich ärztlich behandeln zu lassen, wer nimmt ihn jedoch an – ohne Pass, ohne Krankenversicherung? Die meisten wollen jedoch nicht zum Arzt gehen: ein Bettler mit eiternden Geschwüren bekommt eher als ein Gesunder etwas von den Passanten.
Einst konnten sich die Obdachlosen – sobald die Kälte kam - in jedem Keller, auf dem Dachboden oder im Treppenhaus verstecken. Wegen der Terrorismusgefahr verschließt die Stadt die Türen jedoch. Das führte dazu, dass seit Beginn des Winters viele Obdachlose erfroren sind. Der Bürgermeister von Moskau, Jurij Luschkow, war persönlich gezwungen, sich mit der Rettung der Obdachlosen zu beschäftigen. Die Milizionäre und Notärzte bekamen gründlich was ab, weil weder die Rettungsdienste noch die Patrouillen nachts die auf den Straßen der Stadt "erfrierenden" Menschen "sahen". Dem Komitee für den sozialen Schutz der Bevölkerung wurde die Aufgabe gestellt, in den Nachtasyleinrichtungen für jeden Platz zu finden, der kein Dach über dem Kopf hat. Derzeit gibt es sieben solcher Einrichtungen in der Stadt. Seit Anfang letzten Jahres haben sie 12 000 Personen aufgesucht. Interessant ist jedoch, dass entsprechend statistischen Angaben diese Einrichtungen von Maximum zwei Prozent der Obdachlosen aufgesucht werden. Mitarbeiter des Nachtasyls versuchen das zu erklären: eine Zelle für zehn bis 15 Personen, auf Befehl müssen alle in den Waschraum, zum Mittagessen und auf die Toilette – sogar Obdachlose zieht das wenig an.
Eine ganz andere Sache wäre natürlich ein "eigenes" Haus. Auch wenn es unansehnlich wäre. Jedenfalls wäre das eine Chance, zum normalen Leben zurückzukehren. Experten behaupten, dass 95 Prozent der Obdachlosen davon träumen. (lr)