Modi stellt Indiens Demokratie auf die Probe
26. Januar 2020Indien mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern wird im In- und Ausland oft als "größte Demokratie der Welt" bezeichnet. Einen wichtigen Anteil daran hat die Verfassung, die vor 70 Jahren, am 26. Januar 1950, drei Jahre nach der Unabhängigkeit Indiens, in Kraft trat. Sie beruht in großen Teilen auf dem "Government of India Act" von 1935. Entscheidend ist, dass diese "perfektionierte Kolonialverfassung", wie es in einem Standardwerk zur indischen Geschichte heißt, "auf ein radikal verändertes, demokratisches Fundament gestellt wurde." Eingeführt wurden unter anderem das allgemeine Wahlrecht, Individualgrundrechte und "großzügige Rechtsweggarantien, einschließlich der direkten Grundrechtsbeschwerde zum Supreme Court."
"Neues Staatsbürgerschaftsgesetz verstößt gegen Verfassung"
Eben diese Verfassungsgarantie spielt in der aktuellen innenpolitischen Auseinandersetzung in Indien eine wichtige Rolle - oder könnte sie spielen. Denn Kritiker des neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes (Citizenship Amendment Act, CAA) haben sich an den Supreme Court gewandt, um das umstrittene, von der Regierung Modi mit ihrer deutlichen parlamentarischen Mehrheit durchgebrachte Gesetz zu kippen.
"Es verletzt die Verfassung in zweierlei Hinsicht", sagt Madhav Khosla, Dozent für Rechts- und Politikwissenschaften an den Universitäten Columbia und Ashoka, der DW. "Zum einen garantiert die Verfassung das Recht auf Gleichbehandlung für alle Personen, nicht nur für Staatsbürger. Und da [das neue Gesetz] ohne eine klare Begründung Muslime anders als Nicht-Muslime behandelt, handelt es sich um einen eindeutigen Verstoß. Zum anderen gehört zum Wesenskern der indischen Verfassung eine Idee von Staatsbürgerschaft, die losgelöst von religiöser Identität ist. Und dagegen verstößt das neue Staatsbürgerschaftsgesetz in flagranter Weise", so das Fazit des indischen Verfassungsexperten.
Diskriminierendes Gesetz gegen Muslime
Das Mitte Dezember verabschiedete Gesetz vereinfacht die Einbürgerung von Personen, die vor Dezember 2014 als illegale Flüchtlinge aus den Nachbarländern Bangladesch und Pakistan sowie aus Afghanistan nach Indien gekommen sind. In den Genuss der neuen Regelung kommen allerdings nur Angehörige bestimmter Religionsgemeinschaften, darunter der in Indien entstandenen oder noch vor der Islamisierung heimischen, also Hindus, Buddhisten, Sikhs, Parsen, außerdem Christen. Das heißt, Muslime sind von der neuen Regelung ausgeschlossen.
Die Regierung von Narendra Modi stellt das Gesetz als humanitäre Maßnahme dar und argumentiert, dass in den genannten islamischen Ländern Muslime nicht verfolgt würden. Das wollen Kritiker nicht gelten lassen und verweisen unter anderem darauf, dass in diesen Staaten muslimische Sekten durchaus verfolgt würden. Es gehe Modi und seinen hindu-nationalistischen Hardlinern vielmehr darum, die Muslime generell auszuschließen, weil sie in seiner Vision von einem "Indien der Hindus" stören.
Bürgerregister als Schritt zu Zwei-Klassen-Gesellschaft
Aktuell widmet sich der Regierungschef mit Nachdruck einem "alten Steckenpferd" der von ihm geführten Regierungspartei BJP, wie der "Economist" schreibt: der Bekämpfung illegaler Einwanderung, in deren Folge mehrere Millionen Menschen aus den Nachbarländern Indien "infiltriert" hätten. Diesem Ziel dient nicht nur das geänderte Gesetz über die Staatsbürgerschaft, sondern auch ein geplantes nationales Bürgerverzeichnis (NRC). Dieses wurde bislang nur im nordöstlichen Bundestaat Assam zu enormen Kosten erhoben, wo illegale Einwanderung aus Bangladesch seit langem die Emotionen hochkochen lässt.
Innerhalb der muslimischen Bevölkerung in Indien befürchtet man ein perfides Zusammenwirken von CAA und NRC: Wer aus dem Bürgerverzeichnis als Illegaler heraussortiert werde, könne immer noch - sofern er einer christlichen oder alt-indischen Glaubensgemeinschaft angehört - durch das CAA zum regulären indischen Staatsbürger werden. Muslime wären bei einer landesweiten Erhebung klar benachteiligt. Sie verfügen oft nicht über die erforderlichen Papiere wie eine Geburtsurkunde, die ihren Geburtsort und den ihrer Eltern dokumentiert.
Zusammengenommen könnten diese Maßnahmen, falls konsequent durchgeführt, dazu führen, dass Indiens Muslime - eine "Minderheit" von 200 Millionen oder etwa 14 Prozent der Gesamtbevölkerung - "im öffentlichen Ansehen von gleichberechtigten Bürgern zu Bürgern zweiter Klasse werden", schreibt der "Economist".
Protestbewegung neuer Qualität
Der Protest gegen die jüngsten Gesetzesvorhaben der Regierung Modi hat sogleich nach der Verabschiedung des CAA Mitte Dezember begonnen. Er konzentrierte sich zunächst auf muslimische Universitäten und Viertel in Neu Delhi, Lucknow und anderen Städten und ergriff dann breitere Schichten. Der Staat und "besorgte Bürger" reagierten teilweise mit brutaler Gewalt.
Der im indischen Bundesstaat West-Bengalen lebende Indien-Kenner Martin Kämpchen erkennt eine epochale Entwicklung. Er schreibt in der FAZ von einer "neuen Protestkultur", die sich in Indien entfalte und an die gewaltlose Bewegung des Mahathma Gandhi vor der Unabhängigkeit erinnere. Die Proteste würden nicht nur von der betroffenen muslimischen Bevölkerung getragen, "sondern ebenso von Studenten, Christen und einer breiten Schicht gebildeter Hindus aus den Städten. Neu ist, dass sich viele Studentinnen und andere Frauen den Protestzügen anschließen. Dass sogar Musliminnen auf die Straße gehen, wird erstaunt und bewundernd hervorgehoben." Kämpchen erkennt eine "Solidarisierungswelle, die die üblichen Trennungen von Kasten, Frauen und Männern und von Religionen überwindet und die weiter anschwillt."
Wie wird der Supreme Court urteilen?
Die Frage ist, ob diese Solidarisierungswelle ausreicht, um dem mit einer starken parlamentarischen Mehrheit ausgestatteten Ministerpräsidenten beim Umbau Indiens zu einer "Nation der Hindus" Paroli zu bieten. Da kommt dann wieder die Verfassung ins Spiel. Sie gibt zwar - nach britischem Vorbild - dem Führer der Mehrheitspartei im Parlament eine sehr starke Position. Als Gegengewicht gibt es aber - anders als in Großbritannien - ein ebenfalls starkes Verfassungsgericht. Zwischen diesem und dem Parlament "besteht ein komplexes Machtgefüge […] das sich in einem regelrechten Duell beider Staatsorgane entwickelt hat", heißt es in einem juristischen Standardwerk.
Ob es erneut zu diesem Duell aus Anlass des CAA kommen wird, ist jetzt die spannende Frage. Am vergangenen Mittwoch hat der Supreme Court einen ganzen Stapel an Petitionen gegen das neue Gesetz offiziell zugelassen. Zunächst muss die Regierung binnen vier Wochen auf die Petitionen antworten, dann will das Gericht mit einer auf fünf erweiterten Richterbank seine Entscheidung über die Verfassungskonformität des CAA urteilen.
Schädliches Fehlen einer echten Opposition
Aber wie auch immer die Entscheidung der fünf Richter ausfallen wird: Für noch wichtiger im Hinblick auf die Zukunft der indischen Demokratie hält Verfassungsexperte Madhav Khosla das Wiedererstarken einer echten politischen Opposition, denn zumindest auf der nationalen Ebene Indiens hätten die Parteien außer der BJP "kläglich versagt." Die entscheidende Frage sei nicht, ob die Verfassung die indische Demokratie, sondern ob die indische Politik die Verfassung retten werde.