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Mittelschicht: Angst vor dem Abstieg

12. Oktober 2022

Die Preise in Deutschland steigen - vor allem für Energie. Die Inflation frisst die Löhne auf. Die Krise könnte das Fundament der Gesellschaft erschüttern: die Mittelschicht.

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Schild mit Treppe und absteigendem Mann
Sozialer Abstieg drohtBild: Christoph Hardt/Geisler-Fotopress/picture alliance

Sie sind viele, und bisher haben sie gut gelebt: Lehrer, Beamtinnen, Handwerker. Die mittlere Einkommensgruppe, die Mittelschicht, ist eine Säule der deutschen Gesellschaft und hat das Land über viele Jahre getragen. Wer genau dazugehört, dazu gibt es verschiedene Definitionen, die sich vor allem am verfügbaren Einkommen orientieren. Nach Berechnungen des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) waren das im Jahr 2019 für einen Single circa 1700 bis 3100 Euro Nettoeinkommen im Monat, für ein Paar mit zwei Kindern 3540 bis 6640 Euro Haushaltsnettoeinkommen. 

Die Mittelschicht erbringt einen Großteil des Steueraufkommens, sorgt somit dafür, dass Sozialstaat und Wohlstand gesichert sind, haben in der Regel großes Vertrauen in die Demokratie und sorgen für eine gewisse Stabilität.

Es ist für viele Menschen erstrebenswert, Teil der Mittelschicht zu sein. Sogar so erstrebenswert, dass sich manche dazu zählen, die sozioökonomisch eigentlich nicht dazugehören. So bezeichnen sich 73 Prozent der Menschen in Deutschland selbst als Teil der Mittelschicht, wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) feststellt.

"Es gibt noch eine relativ breite Mittelschicht in Deutschland, zu der ein bedeutsamer Teil der Bevölkerung gehört oder wenn man sich anstrengt und fleißig ist, zumindest auch gehören kann", sagt Patrick Sachweh vom Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen im Gespräch mit der DW. "Die Mitte war immer auch ein Punkt, auf den sich die Status-Aspirationen derer, die noch nicht zur Mitte gehört haben, gerichtet haben. Und das war eine Art integratives Zentrum der Gesellschaft, zu dem man eben auch dazugehören wollte."

Die Mittelschicht als Aufstiegsversprechen - das galt viele Jahre in Deutschland. Und auch heute noch bis zu einem gewissen Grad. Die Mittelschicht in Deutschland ist leicht größer als im OECD-Durchschnitt. Einige Länder wie Dänemark oder die Slowakei liegen allerdings auch deutlich darüber.  

Und die ganz rosigen Zeiten scheinen vorbei zu sein. Vor allem "für junge Menschen wird es immer schwieriger, sich einen Platz in der Mittelschicht zu sichern", hält die gemeinsame Studie der OECD und der Bertelsmann-Stiftung fest. Demnach ist ihre Wahrscheinlichkeit, zur mittleren Einkommensgruppe zu gehören, im Durchschnitt um zehn Prozentpunkte geringer als noch Mitte der 1990er-Jahre.

Mittelschicht als heterogene Gruppe

Auch insgesamt schrumpft die Mittelschicht. Der Anteil der mittleren Einkommensgruppe am Gesamteinkommen der Bevölkerung ist in Deutschland in der Zeit von 1995 bis 2018 von 74 auf 67 Prozent gesunken, wobei der Rückgang vor allem bis 2005 stattgefunden hat. Und wenn man genauer hinschaut, betrifft das Schrumpfen der Mittelschicht nicht die gesamte Gruppe. Denn die Mittelschicht ist keineswegs homogen. Zwischen dem unteren und dem oberen Rand liegen mehrere Tausend Euro Einkommen im Monat.

Und der Abstieg oder Aufstieg in angrenzende gesellschaftliche Gruppen hat zugenommen. "Wir haben weiter eine breite und stabile Mittelschicht", sagt Dorothee Spannagel, Leiterin des Referats für Verteilungspolitik am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel", "aber sie franst an ihrem unteren Ende aus. Das früher vorherrschende Gefühl, mit einer ordentlichen Berufsausbildung habe man ein sicheres Auskommen und könne sich vielleicht einmal ein Häuschen leisten, hat sich allmählich aufgelöst".

Wer gehört zur Mittelschicht?

Die Konsequenz daraus: An die Stelle des Aufstiegsversprechens tritt die Angst. Das spiegelt sich sehr deutlich in der aktuellen Krise wider. Armutsforscher Christoph Butterwegge sagte bei MDR-Aktuell, Armut sei schon lange kein Randgruppen-Phänomen mehr. Es rage bis in ganz normale Familien hinein. Erste Zahlen belegen das: Nie in ihrer Geschichte hat die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) mit Blick auf die Einkommen, die die Deutschen in Zukunft für sich erwarten, einen schlechteren Wert gemessen, berichtet die "Frankfurter Allgemeine Zeitung".

Angst und Sorge gehen um

Nachfrage bei denen, die mit den Folgen zu tun haben: bei der Schuldner- und Insolvenzberatung des Diakonischen Werks Köln und Region und beim Paritätischen Wohlfahrtsverband Nordrhein-Westfalen. Die Angst, steigende Preise und Energiekosten nicht mehr bewältigen zu können, sind dort schon präsent. "Bei uns rufen Kollegen der Stadtwerke an, die im Umgang mit sozialen Krisen geschult werden möchten. Sie müssen mit Menschen umgehen, die verzweifelt bei ihnen anrufen und Angst haben", berichtet Fachreferent Martin Debener. Das kann auch Maike Cohrs von der Schuldnerberatung bestätigen: "Wir merken schon, dass es viele gibt, die, sagen wir, zur unteren Mittelschicht gehören, die arbeiten gehen, die eigentlich mit ihrem Einkommen ganz gut hinkommen würden, die aber durch Zahlungsverpflichtungen, hohe Mieten und dann jetzt noch die hohen Energiepreise und Lebenshaltungskosten mit ihrem Einkommen, was sie haben, schnell in Bedrängnis kommen."

Die untere Mittelschicht. Also Menschen am unteren Rand der mittleren Einkommensskala. Das waren 2018 nach OECD-Angaben 18 Millionen Menschen. Auch Sozialwissenschaftler Sachweh sieht darin eine Gruppe, die durch Inflation und Energiekrise stark betroffen sein könnte. "Der Durchschnitt des Vermögens in der unteren Mitte liegt bei 40.000 Euro, viele dürften jedoch deutlich weniger haben. Insofern gibt es nicht allzu viele Rücklagen, auf die man zurückgreifen könnte, um diese Preissteigerung abzufangen."

Eigenheim-Siedlung am Waldrand
Das Versprechen von einem sorgenlosen Leben im Eigenheim bröckeltBild: Florian Gaertner/photothek/picture alliance

Tatsächlich hat eine Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft gezeigt: Die Energiearmut betrifft stark die untere Mittelschicht. Sobald ein Haushalt mehr als zehn Prozent seines Nettoeinkommens für Energie ausgibt, gilt er als "energiearm". Zwischen 2021 und Mai 2022 verdoppelte sich der Anteil der energiearmen Haushalte in der Einkommensklasse der unteren Mittelschicht auf knapp 41 Prozent. Das bedeutet: Sehr viele Menschen geraten in erhebliche Schwierigkeiten, wenn sie ohne Rücklagen plötzlich explodierende Energiepreise bewältigen müssen. Es werde Aufgabe der Politik sein, so Sachweh, diese Menschen nicht zu vergessen und passgenau zu unterstützen.

Selbstverständnis verändert sich

Obwohl mittlere und obere Mittelschicht in den kommenden Monaten vermutlich weniger stark von Energiekrise und Inflation betroffen sein werden, sieht Sachweh dennoch einen Unterschied zu früheren Krisen. Denn das Selbstverständnis dieser selbstbewussten und gut situierten Säule der Gesellschaft könnte sich verändern. Bisher hat ein Teil der Mittelschicht einen Lebensstil gepflegt, den Sachweh mit "investiver Statusarbeit" beschreibt. Das bedeutet, es gab die Vorstellung, das erwirtschaftete Einkommen gewinnbringend investieren zu können, zum Beispiel in ein Eigenheim. Das allerdings wird durch Zinsen und steigende Preise für immer weniger Menschen der Mittelschicht eine Option.

Um das abzufedern, könnte sich die Mittelschicht so verändern, dass sie statt in Materielles in "Humankapital" investiert, sagt Sachweh. Mit anderen Worten: in Bildung. Zum Beispiel der eigenen Kinder. Mit der Hoffnung, dass den Kindern dann wieder das gelingt, was immer die süße Verlockung der Mittelschicht war: Wohlstand, Aufstieg und ein fester Platz in der Gesellschaft.