Komšić: "Kosovo ist ein unabhängiger Staat"
17. Juli 2020Željko Komšić (56) ist Mitglied des dreiköpfigen Staatspräsidiums von Bosnien-Herzegowina. Der kroatische Bosnier wurde 2018 zum dritten Mal ins Präsidium gewählt, in das entsprechend der Dayton-Verfassung nur kroatische, bosniakische und serbische Mitglieder gewählt werden können. Er setzt sich seit Jahren für eine Reform der Verfassung ein, die nicht konstitutiven Völkern, sondern gleichberechtigten Staatsbürgern gleiche Rechte einräumen sollte. DW sprach mit Komšić während dessen Besuch in Berlin zum 25. Jahrestag des Genozids von Srebrenica.
DW: Herr Komšić, genau am 25. Jahrestag des Völkermords von Srebrenica hat eine neue Verhandlungsrunde zwischen Serbien und Kosovo begonnen. Bereitet sich Bosnien-Herzegowina darauf vor, Kosovo völkerrechtlich anzuerkennen?
Željko Komšić: Es ist nicht unbekannt, dass es darüber keinen Konsens im Staatspräsidium gibt. Herr Dodik, das serbische Mitglied des Präsidiums, ist heftig dagegen, Kosovo anzuerkennen. Aber - wenn Sie realistisch und pragmatisch sein wollen: Kosovo ist ein unabhängiger Staat. So ist das jetzt. Man wartet nur noch darauf, dass Belgrad diese Tatsache akzeptiert. Dann werden die Dinge einfacher.
Wie bewerten Sie die jüngsten Proteste in Belgrad?
Hier wird die Corona-Pandemie für eine Art Aufstand ausgenutzt. Es war schnell klar, dass das nichts mit der Pandemie, sondern mit Kosovo zu tun hat. Alles deutet darauf hin, dass es hier eine organisierte politische Struktur gibt, die ihre politischen Ziele hinter der Corona-Fassade verbirgt. Das Ziel ist, eine Vereinbarung zwischen Belgrad und Prishtina unmöglich zu machen.
In wessen Interesse ist das?
Es ist im Interesse der extremistischen Rechten und Faschisten in Serbien sowie deren Unterstützer in Osteuropa.
Sollte Kosovo von Serbien anerkannt werden, könnte Bosnien-Herzegowina seine serbische Entität, die Republik Srpska, verlieren?
Wie soll das passieren? Kosovo und Bosnien-Herzegowina sind nicht vergleichbar. Bosnien wurde als Staat auf Grundlage der Ergebnisse der internationalen Badinter-Kommission anerkannt. Bosnien war im alten Jugoslawien eine föderale Republik mit Recht auf Selbstbestimmung, das 1992 durch ein Referendum umgesetzt wurde. Kosovo hatte einen Status als autonome Provinz (innerhalb Serbiens). Das ist weder von der Verfassung des ehemaligen Jugoslawiens noch vom internationalen Völkerrecht her vergleichbar.
Aber Milorad Dodik, das serbische Mitglied im bosnischen Präsidium, und der Präsident Serbiens, Aleksandar Vučić, haben mehrfach ein Szenario der Abspaltung der Republik Srpska und deren Anschluss an Serbien für möglich erklärt.
Sie haben es versucht, im Krieg von 1992-1995. Sie sollten sich daran erinnern, wie das damals zu Ende ging. Und daran, was mit den serbischen Politikern geschah, die als ihre Vorgänger damals die Ämter ausübten, und wo sie landeten (in Den Haag - Anm.d.Red.). Wäre ich an der Stelle von Dodik und Vučić, würde ich nicht mit dem Feuer spielen.
Wie wird sich der Wahlsieg der HDZ in Kroatien auf Bosnien auswirken? Zumal weder die HDZ in Kroatien noch die HDZ in Bosnien Sie als kroatisches Mitglied des Staatspräsidiums annerkennen?
Die HDZ in Kroatien versucht, über die HDZ in Bosnien und über das Konstrukt der "konstitutiven Völker" - ein anachronistisches, antizivilisatorisches und ein sowjetisches Konzept, das selbst dort nicht mehr existiert - Bosnien als eine Art Geisel zu halten. Was uns hilft, ist das EU-Dokument für Bosnien-Herzegowina zur EU-Annäherung. Alle 14 Prioritäten in diesem Dokument wurden von sämtlichen EU-Staaten akzeptiert, auch von Kroatien. Was Kroatien in den letzten Jahren als Einmischung in das politische System Bosnien-Herzegowinas versuchte, ist ein Verstoß gegen dieses EU-Dokument. Es gab mehr Austausch zwischen Zagreb und Sarajevo während des Krieges als heute. Die Probleme, die wir mit Kroatien haben, hätten wir relativ leicht lösen können - aber sie wollen offenbar nicht.
Warum war es Ihnen wichtig, am 25. Jahrestag des Völkermords von Srebrenica in Berlin in der Gedächtniskirche daran zu erinnern?
Weil das ein Thema ist, das nicht nur für Bosnien und Herzegowina wichtig ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg war nicht damit zu rechnen, dass auf dem europäischen Kontinent etwas geschehen könnte, was den Schrecken des Zweiten Weltkrieg ähnlich war. Unabhängig davon, dass an vielen Orten in Bosnien das gleiche Verbrechen, nämlich Völkermord, begangen wurde, ist Srebrenica zum zentralen Symbol für die Verbrechen gegen Bosnien und Herzegowina geworden - und nicht nur gegen Bosnien und Herzegowina, sondern gegen die gesamte Zivilisation.
Wie beurteilen Sie die Äußerungen der serbischen Ministerpräsidentin Brnabić im DW-Interview, dass in Srebrenica kein Völkermord geschehen wäre?
Das, was Brnabić erzählt, ist nicht von Bedeutung. Das dient nur innenpolitischen Zielen in Serbien, vielleicht noch in der Region. Es wäre gut, wenn endlich Leute in diesen Regierungsstrukturen wären, insbesondere in Serbien - dessen Staatsapparat an der Durchführung des Genozids beteiligt war -, die menschliche Größe und Mut aufbringen und sagen: "Ja, es war Völkermord."
Warum hat Bosnien-Herzegowina noch immer kein Gesetz gegen die Leugnung des Völkermords?
Wir sind wegen der politischen Verhältnisse leider nicht in der Lage, ein Gesetz zu verabschieden. Nach meiner Auffassung ist es eine zivilisatorische Verantwortung, nicht nur die Leugnung von Völkermord, sondern auch des Holocaust unter Strafe zu stellen. Vertreter von Menschenrechtsorganisationen haben sich mehrfach an den Hohen Repräsentanten (OHR) für Bosnien und Herzegowina gewandt, dass er ein solches Gesetz erlässt, weil er über die sogenannten "Bonner Befugnisse" verfügt - aber dazu kam es nie.
Was müsste passieren, damit alle drei Mitglieder des Staatspräsidiums von allen Bürgern gewählt werden, und nicht jeweils von einer ethnischen Gruppe?
Das wäre ein Konzept, das ich in Bosnien und Herzegowina gerne sehen würde. Das Modell der konstitutiven Völker ist überholt. Es hatte seine Funktion in Ex-Jugoslawien. Als dieses Jugoslawien zerfiel, zeigte sich, dass dieses Konzept überholt ist und auch der aktuellen Situation nicht entspricht. Außerdem wird es instrumentalsiert, um die Auflösung von Bosnien und Herzegowina zu betreiben.
Was ist die Alternative?
Es ist das Konzept der Europäischen Union, wo die Menschenrechte und Würde jedes Individuums geschützt werden. Ohne dass man darauf schaut, ob jemand Serbe, Kroate, Bosniake, Roma, Jude oder was immer ist. Und genau das steht in der Expertise der EU-Kommission. Bosnien muss ein Staat freier und gleichberechtigter Menschen sein, nicht konstitutiver Völker.