Mit Tempo 30 in die Zukunft?
18. Juli 2021Auf dem regennassen Asphalt der Adenauerallee rauschen die Autos vorüber. Das Brummen der Reifen ist so laut, dass Helmut Dörrenberg schwer zu verstehen ist. Der Rentner steht am Bürgersteig, den Regenschirm aufgespannt, und zeigt hoch zu seiner Wohnung. Die liegt direkt an der vierspurigen Straße, die das Bonner Zentrum mit dem Süden der Stadt verbindet.
"Ich wohne seit 50 Jahren hier", sagt Dörrenberg. "Der Verkehr ist schon mehr geworden. Aber das stört mich nicht. Wenn ein Achtzylinder-Mustang vorbeifährt, dann freut mich das Geräusch sogar." An der Adenauerallee gilt Tempo 50 - die so genannte Regelgeschwindigkeit in deutschen Städten. Ob ihm die Autos vor seiner Tür nicht zu schnell unterwegs sind? "Stattdessen Tempo 30?" fragt Dörrenberg zurück. "Auf keinen Fall! 50 ist eine gute Geschwindigkeit für die Stadt. Ich bin einer, der gerne zügig fährt. Nachts, wenn alles frei ist, auch mal 60."
Spanien bremst ab
Seit Jahrzehnten wird hierzulande über ein generelles Tempolimit auf Autobahnen gestritten, über Tempo 80 auf Landstraßen und Tempo 30 in der Stadt. Autoliebhaber wie Dörrenberg sehen davon ihre Freiheit bedroht. Und bislang hat keine Bundesregierung es gewagt, die Gesetze entsprechend zu verschärfen.
In anderen europäischen Ländern sind maximal 120 oder 130 Stundenkilometer auf der Autobahn seit langem Standard. Innerorts werden die Regeln ebenfalls strenger - Spanien hat gerade erst Tempo 30 in Städten eingeführt.
Acht Städte wollen Tempo 30
Wenige Monate vor der Bundestagswahl kommt auch in Deutschland wieder Schwung in die Debatte. Mit neuen Tempolimits ließen sich bis 2034 insgesamt bis zu 100 Millionen Tonnen klimaschädliches CO2 einsparen, erklärte diese Woche ein Bündnis aus Umweltverbänden und der Gewerkschaft der Polizei im 18-Millionen-Einwohner-Bundesland Nordrhein-Westfalen. Und selbst die Mitglieder des Automobilclubs ADAC, des größten deutschen Vereins, sprechen sich in Umfragen nicht mehr mehrheitlich gegen neue Tempolimits aus. SPD, Linkspartei und Grüne haben sie in ihre Wahlprogramme aufgenommen.
Auf eine neue Bundesregierung hofft Katja Dörner von den Grünen. Die Bonner Oberbürgermeisterin möchte dem spanischen Beispiel folgen und hat sich der "Städteinitiative Tempo 30" angeschlossen. Acht deutsche Großstädte fordern darin, dass sie Tempo 30 zur Regel machen dürfen. Dafür bräuchte es aber ein neues Gesetz des Bundes. "Wir erwarten dadurch weniger Emissionen und weniger Lärm in der Stadt", sagt Dörner der DW. "Das ist aus meiner Sicht ein ganz entscheidender Faktor, aber natürlich auch die Frage der Verkehrssicherheit."
Ausnahmen zur Regel machen
Aus ihrem Büro im 12. Stock des Bonner Stadthauses blickt Dörner auf Häuserreihen, die von großen Verkehrsachsen durchschnitten werden. Wie viele deutsche Städte wurde auch Bonn nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg autofreundlich wieder aufgebaut. Heute forderten viele Bürger in Anträgen Tempo 30 für bestimmte Straßen, sagt Dörner. "Und in der Regel können wir das nicht genehmigen, weil die bundesgesetzlichen Regelungen es uns nicht ermöglichen. Das würden wir gerne umdrehen. Also 30 zur Regel machen und da, wo es die Situation hergibt, auch Tempo 50 möglich machen."
Bislang darf die Stadt nur an wenig befahrenen Straßen Tempo 30-Zonen einrichten oder dort, wo Schulen, Kindergärten oder Altenheime liegen. So etwa am Bonner Talweg, etwa 15 Autominuten vom Büro der Bürgermeisterin entfernt. Autos, Straßenbahnen und Fahrräder teilen sich hier die schmale Fahrbahn, rechts und links stehen eng an eng geparkte Fahrzeuge.
Weitere Studien gefragt
Der Kastenwagen eines Fliesenlegers versucht, möglichst schnell durch das Nadelöhr zu kommen, dahinter ein Paketdienst, dann ein Lastwagen, der einen Supermarkt beliefert. Kritik an neuen Tempolimits in der Stadt kommt oft von Unternehmern, deren Fahrzeuge mehrmals täglich die Stadt durchqueren. Wie steht die Vertretung der Wirtschaft, die Industrie- und Handelskammer (IHK) in Bonn, zum Tempolimit? In einem Flachdachbau liegt sie etwas zurückgesetzt am Bonner Talweg.
"Eine pauschale Einrichtung von flächendeckendem Tempo 30 ohne Voruntersuchung lehnt die IHK ab", teilt Geschäftsführer Stephan Wimmers der DW mit. Die IHK fordert zunächst eine Verkehrsuntersuchung, "die die Auswirkungen auf das gesamte Netz darstellt und zudem Aussagen hinsichtlich Lärmverminderung, Verkehrsfluss, Stauanfälligkeit, auch in Nebenstraßen, und Emissionen trifft."
Was die IHK fordert, wurde bereits an anderer Stelle teilweise erforscht. Bisherige Gutachten dazu sind unterschiedlich ausgefallen. Eine Zusammenfassung des Bundesumweltamts stellt fest, dass es zu wenig Forschungsergebnisse gebe. Nach bisherigen Erkenntnissen sehe man aber überwiegend Gewinne, was Verkehrssicherheit, Lärm- und Luftschadstoffminderung angehe und keine übermäßige Einschränkung der Auto-Mobilität.
An der Reuterstraße, einer vierspurigen Achse einen Kilometer weiter südlich, haben die Anwohner die Auswirkungen des neuen Tempolimits bereits eineinhalb Jahre lang studieren können. Jahrzehntelang galt hier, auf einer der meistbefahrenen Straßen Bonns, Tempo 50. Doch weil von der EU vorgeschriebene Grenzwerte für Schadstoff überschritten wurden, musste Tempo 30 eingeführt werden.
Früher war nicht alles besser
"Das war ein guter Schritt für uns", sagt Mechthild Hengst der DW. Nur etwa drei Meter Bürgersteig und eine Hauswand trennen ihr Wohnzimmer von den vorbeirauschenden Fahrzeugen. Seit 40 Jahren wohnt die Rentnerin hier an der Reuterstraße. "Früher war es viel heftiger", sagt sie.
Die Fenster könne man wegen des Drecks der Autos zwar immer noch permanent putzen. Aber es sei nun etwas ruhiger. "Und wenn ich jetzt vor die Tür trete und die Autos kommen, dann habe ich das Gefühl, ich schaffe es über die Straße, weil sie nicht so schnell sind. Ich fühle mich weniger gefährdet." Für ein generelles Tempolimit von 30 Stundenkilometern in der Stadt möchte sich Hengst dennoch nicht aussprechen. Sie befürchtet, dass Staus dadurch zunehmen könnten.
Eine Stadt für Fußgänger und Radfahrer?
Ein paar Blocks die Straße runter: ein Fahrradladen. Sara Mohns ist gerade mit ihrer Tochter dabei, einen neuen Helm auszusuchen. Sie blickt über eine Reihe Trekking-Räder durch die Scheibe hinaus in den Regen auf die Kreuzung. "Wenn ich hier rausschaue, dann sieht es aus, als ob die Stadt den Autos gehört", sagt sie. "Man sollte anfangen, die Stadt den Fußgängern und Fahrradfahrern zurückzugeben. Und Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit ist dafür ein guter Paradigmenwechsel."
In knallroter Regenjacke tritt Mohns hinaus in den Regen, schiebt ihre Tochter im Kinderwagen in Richtung Ampel. Sie wohne ein paar Straßen weiter, auch dort gelte noch Tempo 50. Sie hoffe, dass sich das bald ändert, sagt Mohns, wartet auf grün und überquert die Kreuzung.
Wenn denn wirklich flächendeckend Tempo 30 käme, dann würde sich auch Autofan Helmut Dörrenberg daran halten, sagt er. "Ich bin letztens zum ersten Mal geblitzt worden, wegen 10km/h zuviel", erzählt er, während der Regen weiter auf seinen Schirm prasselt. Er habe sich vorgenommen, dass ihm das nicht noch einmal passiere.