Mit Lockerheit und Akribie zum Titel
11. Juli 2014Lippenleser müsste man jetzt sein. Denn zu hören ist natürlich nichts. Ganz am anderen Ende des Trainingsplatzes hat Bundestrainer Joachim Löw gerufen und seine Spieler kamen. Runter vom Laufband, dem Fahrradergometer und der Fitnessmatte, rein in das kleine Gebäude neben dem Platz. Jetzt sitzen sie dort hinter großen Glasscheiben und schauen zu Löw. Der spricht minutenlang zu ihnen, gestikuliert dabei und ballt manchmal sogar die Faust. Seine Worte bleiben für den Beobachter von der anderen Seite des Platzes ein Rätsel, Löws Botschaft wird aber allein durch seine Körpersprache klar: Dies ist der Moment, jetzt zählt's!
Es ist eine der letzten Ansprachen vor dem Spiel der Spiele und die deutsche Elf wirkt bereit. Anspannung, Nervosität, gar Angst vor Argentinien? Fehlanzeige. Betont lässig präsentiert sich die deutsche Nationalmannschaft vor dem WM-Finale am Sonntag (ab 21 Uhr MESZ im DW-Liveticker). Die drittletzte Trainingseinheit vor dem Endspiel enthält sogar eine Partie Fußballtennis. Gleich nach dem Aufwärmprogramm geht es an zwei knapp über dem Boden gespannte Netze. Der lockere Kick von der einen auf die andere Seite macht den Beteiligten sichtlich Spaß, Lukas Podolski albert mit hochgezogenen Shorts herum, Sami Khedira jubelt mit Boris-Becker-Gedächtnis-Faust über jeden Punkt und selbst der Bundestrainer kickt engagiert mit. Die Auslöser der Fotokameras rattern, Dutzenden TV-Kamera-Objektive schwenken mit dem Ball mit. Es ist auch eine Demonstration von Lockerheit, die die DFB-Elf da in die Welt sendet.
"Deutschland ist eine echte Macht"
Sie wird auch beim Gegner Argentinien angekommen sein. Dort hat man größten Respekt vor der Mannschaft von Joachim Löw: "Deutschland ist eine echte Macht", raunte Alejandro Sabella nahezu ehrfürchtig nach dem 7:1-Sieg der Deutschen im Halbfinale gegen Brasilien. Der 59-jährige Auswahltrainer Argentiniens fand das Spiel des DFB-Teams schlicht "unglaublich", wie er sagte. Nach dem über weite Strecken für Fußballfans unansehnlichen, für Liebhaber von taktisch disziplinierter Defensivarbeit aber durchaus interessanten Halbfinal-Sieg über die Niederlande im Elfmeterschießen will Argentinien jetzt mehr - und fühlt sich in der Underdog-Rolle ganz wohl.
"Die Deutschen sind jetzt zuversichtlich. Besser so, denn je mehr Selbstvertrauen sie haben, desto größer wird die Überraschung gegen uns sein", meinte Argentiniens Fußball-Legende Maradona, der zur Sicherheit noch einmal klarstellte, dass Deutschland "nicht unschlagbar" sei. Allein die Tatsache, dass sich der stolze Maradona zu dieser Aussage genötigt sieht, sagt auch einiges über die Sichtweise auf die deutsche Elf aus.
Einer goldenen Spieler-Generation fehlt nur noch der Ritterschlag
Deutschland hat sich den Ruf als Turnierfavorit erarbeitet, darauf legt man Wert beim DFB. Die aktuelle Nationalmannschaft ist ein Langzeitprojekt, das über die Jahre gewachsen ist, verfeinert wurde und die Handschrift des Trainerteams Joachim Löw und Hansi Flick trägt. "Wir haben das Ballbesitzspiel kontinuierlich verbessert und man kann fast sagen perfektioniert. Da sind wir auch ein bisschen stolz drauf", sagte Flick, der nach dem WM-Turnier zum DFB-Sportdirektor aufsteigen wird.
Nach anfänglichen Wacklern vor allem im Defensivbereich hat sich die deutsche Mannschaft während dieses WM-Turniers gefunden. Sie ist zu einem beeindruckenden Schauspiel gereift, das Fußballfans weltweit entzückt. Eigentlich fehlt jetzt nur noch eins: "Jetzt wollen wir auch den letzten Schritt noch machen", meinte Verteidiger Benedikt Höwedes, der es gemeinsam mit seinen Abwehrkollegen "im Kollektiv" mit Argentiniens vierfachen Weltfußballer des Jahres aufnehmen will.
Vor dem Superstar hat man im deutschen Team Respekt, "weil er ein Spiel alleine entscheiden kann", weiß Routinier Miroslav Klose, der als einziger Teilnehmer des Endspiels weiß, wie es ist, ein WM-Finale zu spielen. Die Erinnerung daran will Klose jedoch gerne mit einer anderen, besseren Erfahrung am Sonntag überschreiben. "Ich weiß wie beschissen es sich anfühlt, wenn man ein Finale verliert", sagte Klose mit Blick auf die Endspiel-Niederlage Deutschlands gegen Brasilien bei der WM 2002. Gegen Argentinien müsse man nun "alles abrufen", fordert der Stürmer, der sich nicht nur als Rekordtorschütze, sondern auch als Weltmeister von diesem Kapitel seines Lebens verabschieden möchte.
Die Kreise des Javier Mascherano
Dem steht nun nur noch Argentinien im Weg. Ein Gegner, der nicht nur in den Augen von Bundestrainer Joachim Löw defensiv "stark, kompakt, gut organisiert" steht. Nicht ein Gegentor ließ die Albiceleste in der K.O.-Phase bisher zu - schoss aber auch selbst nur zwei aus dem Spiel heraus. Wider erwarten sind es nicht die Offensivstars Lionel Messi, Gonzalo Higuian oder Ezequiel Lavezzi, die Argentiniens Spiel prägen, sondern die Defensivabteilung. Die zeigt robusten und nahezu fehlerlosen Ergebnisfußball, der von einem Mittelfeldspieler perfekt verwaltet wird: Javier Mascherano vom FC Barcelona ist der Kopf der Mannschaft und mit 87 Prozent angekommenen Pässen ihr Taktgeber. Seine Kreise zu stören, wird eine Schlüsselaufgabe des deutschen Mittelfelds im Finale sein.
Längst wissen die deutschen Spieler über die Stärken und Schwächen des Gegners Bescheid, erhalten via Apps auf ihren Tablets und Smartphones detaillierte Informationen über ihre Gegenspieler. Diese Hinweise schickt die DFB-Scoutingabteilung um den mittlerweile sagenumwobenen Schweizer Urs Siegenthaler basierend auf Daten, die rund 40 Studenten der Deutschen Sporthochschule in Köln erheben. Jedes kleine Detailzählt, jede Information könnte spielentscheidend sein. Eine in ihrer Gründlichkeit wohl typisch deutsche Herangehensweise des Deutschen Fußball-Bundes, der bei dieser WM nichts unversucht lassen will. Alles für das große Ziel, sagt Hansi Flick: "Es ist noch ein Spiel bis zum großen Pokal."